Atemwege
im Unbewussten
Zur tiefenpsychologischen Atemarbeit nach Cornelis Veening
von Irmela Halstenbach
Erschienen im Jung-Journal, Heft Nr. 11/12 Juli 2004
Die hier dargestellte
Methode wendet sich den vegetativen Prozessen im Unbewussten zu.
Da, wo die Zellen atmen, werden Körper und Seele noch als Einheit
erfahren, als der Leib, der ich bin. Tiefenpsychologische Atemarbeit
und Analytische Psychologie entwickeln sich aus einer gemeinsamen
Wurzel, aus der leibseelischen Ganzheit im Unbewussten. Atem- und
Traumarbeit basieren gleichermaßen auf autonomen Prozessen
im Unbewussten und sind auf sie ausgerichtet. Sie suchen die Spuren
spontaner Regungen da, wo sie vom Ich noch nicht verwischt oder
überlagert sind. Sie zeigen, wie eine solche Spur zu finden
ist und wie sie gelesen werden kann, um ihr unbeschadet zu folgen.
Den Entwicklungsprozess der Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten
und seine Gestaltung hat Jung Individuation genannt. Das Gleiche
lässt sich auch für die Atemarbeit sagen, nur dass sich
der Prozess hier am Körper orientiert, bzw. vom Körper
ausgeht.
Was ist
die Seele? wurde Jung in einem Seminar gefragt. Wer
kann das sagen? antwortete er, am ehesten: ein Strom
von Bildern.(1) Das Fließen des
inneren Atems gleicht dem Fließen der Bilder und Träume.
Der Innenwahrnehmung erscheinen sie wie zwei Aspekte des einen Lebensstroms,
in den wir eintauchen im Schlaf und wiederkehren im Erwachen. Ähnlich
wie Bilder und Träume erst beim Einsenken des Bewusstseins
erkennbar werden, lässt sich auch die fließende Atembewegung
erst finden, wenn die Sinne in den Körper einkehren. Denn auf
seiner Oberfläche tritt sie kaum in Erscheinung. Erst wenn
die rhythmische Bewegung des Ein und Aus ganz still wird, wie in
der Meditation, kann die innere Atembewegung sich zeigen. Ist das
Atem? Zu Anfang erkennen wir ihn nicht, weil er der gängigen
Vorstellung vom Atem so wenig entspricht. Und doch gehört er
zur frühesten Erfahrung jedes Menschen. Wir atmen nicht erst
seit der Geburt. Angeschlossen an den Kreislauf der Mutter atmen
die Zellen vom Augenblick ihres Ursprungs an. Sie nehmen in dieser
Zeit mehr an Wissen auf als im späteren Leben noch dazukommen
kann. Erst mit der Geburt beginnen wir selbst Atem zu holen. Nach
und nach überdeckt die Fähigkeit des Atmen-Könnens
die ursprüngliche Erfahrung des Geatmet-Seins. Für den
inneren Kreislauf macht es keinen Unterschied, wer den Atem holt.
In ihm bleibt die Urerfahrung immer präsent und wirksam.
Wie oft beim
Finden einer Körpertherapie, war es ein eigenes Leiden, das
Cornelis Veening auf die Spur der inneren Atembewegung brachte.
Es war der Verlust seiner Stimme, der den jungen holländischen
Sänger während einer Tournee durch Deutschland traf. Er
suchte verschiedene Atemtherapeuten auf, doch ihre Übungen
blieben ihm fremd. Stattdessen holten ihn Träume und spontan
auftauchende Imaginationen in die Innenräume seines Körpers
hinein. Weder die Atemkollegen, noch seine Analytikerin konnten
nachvollziehen, was in ihm vorging. Es sind Ihre Bilder, die
Sie krankmachen. Wenn Sie sich nicht von ihnen trennen, müssen
wir uns trennen. Veening erinnerte sich noch im Alter an die
Bedrohung, die in dieser Forderung lag. Ihr folgte eine Imagination:
Die Türe öffnete sich. Eine hohe Gestalt trat ein und
stellte sich hinter ihn. Er spürte die Kraft seiner Wirbelsäule.
Sie richtete ihn auf und er wusste: Jetzt muss ich aufstehen
und gehen! Es wurde ein Alleingang im eigentlichen
Wortsinn auf dem er die Bewegung des inneren Atems entdeckte.
Doch erst in der Begegnung mit C. G. Jung und in einer zweiten Analyse
konnte er seine Bilder als Symbolsprache des Körpers verstehen
und einordnen. Veening arbeitete lange Jahre zusammen mit dem Jungschen-Analytiker
G. R. Heyer.(2) Als Therapeuten und Lehrer
ergänzten sie sich hervorragend. Denn Psychotherapie war bei
Heyer so psychosomatisch, wie Atemarbeit bei Veening tiefenpsychologisch
war.
Wer sich dem
Atemgeschehen im Unbewussten nähern will, muss lernen, es nicht
zu stören, denn in ihm begegnet uns die eigene Natur. Darum
gibt es in dieser Methode keine Übungen für den Atem.
Stattdessen wird die Innenwahrnehmung dazu ausgebildet, seine subtilen
Bewegungen zu finden und ihnen zu folgen, ohne in den vegetativen
Prozess einzugreifen. Veenings Zugang zum Atem spiegelt sich in
einer Äußerung von Jung: Ich habe vom Osten gelernt,
was er mit >Wu Wei< ausdrückt, nämlich das NichtTun,
das Lassen. Die dunkle Stelle, an die man stößt, ist
ja nicht leer, sondern die >spendende Mutter<, die >Bilder<,
der >Same<. Wenn die Oberfläche abgeräumt ist, kann
es aus der Tiefe wachsen.(3)
Schön ist
es zu sehen, wie leicht Kinder in die fließende Bewegung des
Atems eintauchen können. Sie sind der Urerfahrung noch nah.
Wenn sie ihre Atembilder malen, zeigen sich ähnliche Symbole
wie auf östlichen Darstellungen der Atemmeditation. Besonders
eindrücklich erlebte ich diese Unmittelbarkeit beim Besuch
eines jungen Mädchens. Sie kam unangemeldet mit ihrer Tante
ins Haus, fest entschlossen, auch eine Atemstunde zu bekommen. Die
Achtzehnjährige ist mit einem Down Syndrom geboren. Von außen
gesehen wirkt sie jünger als ihr Alter. Doch die Fragen, die
sie mir zu Beginn der Stunde stellte, zeigten ihr reifes Gespür
für die eigene Existenz. Die erste Frage bezog sich auf das
Thema der Beziehungen. Während meine Hände ihrem Atemfluss
folgten, tauchte sie ein in den Strom von Bildern, den
sie zugleich in Worte fasste. Ihr Lebenshintergrund öffnete
sich. Sie fand darin eine Antwort, die ihr einleuchtete.
Die zweite Frage:
Kann ich mit meinen Händen arbeiten? wird mir in
der Atemausbildung oft gestellt. Probier es bei mir!
Blitzschnell sprang sie vom Liegen in den Schneidersitz und saß
mir nun gegenüber. Sie legte ihre Hand auf mein Knie und legte
meine Hand auf ihre. Dann schloss sie die Augen. Während sie
in den eigenen Körper eintauchte, bewegte sich die Hand unter
meiner Hand nicht. Und doch ging eine tiefe Atembelebung von ihr
aus. Zwanzig Minuten saß sie ganz still, ohne ihre Haltung
zu verändern. Es gelang ihr, von dieser einen Stelle der Berührung
ausgehend, meinen Atem bis in die feinsten Verzweigungen hinein
zu locken. Ihre Arbeit erinnerte mich an einen Satz meines Lehrers:
Nicht überfließen! Nur anstoßen und wecken.
Die Fähigkeit, die subtile Grenze im Inneren Kreislauf des
Atems zu spüren bei Sara war sie instinktiv ausgebildet.
Während sie von ihrer Handmitte aus meinen Atem anregte, griff
sie doch nie in ihn ein. Woher kommt dieses fraglos sichere Gespür?
Wenn der Therapeut einen fließenden Atem hat, kann er
den Atem lenken, schreibt Veening in einem Brief an seine
Schüler. Die Formulierung kann irreführend klingen. Bei
Sara war klar, was gemeint ist.
Ich habe vom Osten gelernt, was er mit >Wu Wei< ausdrückt,
nämlich das Nicht-Tun, das Lassen.
Für das
rationale Bewusstsein ist es ein weiter Weg, bis es sich da niederlassen
kann, wo die Natur atmet. Zu viele Konzepte, Vorstellungen und Wünsche
liegen dazwischen. Das Lassen kommt erst mit der Einkehr. Wer sich
ins Körperinnere hinein vertieft, begegnet zunächst dem
Fremd- und Anderssein in sich selbst. Das wirkt, als hätte
man sich verirrt. Die Wahrnehmung hält inne und wartet. Doch
dann zeigt sich, es ist der eigene Schatten, der über dem Weg
liegt. Im Annehmen und Achten weitet sich die Wahrnehmung. Der Atem
kommt ihr entgegen. In der Begegnung von Atem und Achtsamkeit entsteht
ein ontogenetisches, von der eigenen Entwicklung geprägtes
Lernfeld. Die Lebensgeschichte bietet reichlichen Lehrstoff. Dann
erweitert sich das Feld und führt in die kollektiven Bedingungen
hinein. Wenn die Wahrnehmung sich bis dahin absenkt, kann ihr latentes
Wissen aus dem Leibgedächtnis, wie aus dem Artgedächtnis
eingearbeitet werden.(4)
Die
dunkle Stelle, an die man stößt, ist ja nicht leer...
Bei dieser Annäherung
lässt sich beobachten, dass die Ebenen des persönlichen
und kollektiven Unbewussten ihre Entsprechungen im Körper haben.
Sie lassen sich als unterschiedliche Schichten in der Atembewegung
ertasten. Was sich zeigt, kommt aus einer Schicht, in der das Instinktwissen
den Atem lenkt. Wenn die innere Ordnung sich zeigt, wirkt sie unmittelbar
wie bei Gemma. Die letzte Chemotherapie hatte sie so angegriffen,
dass sie zum vereinbarten Termin nicht kommen konnte. Ich fuhr hin
und fand sie matt, mit sehr kurzem Atem auf dem Bett liegen. Was
kann ich tun? In Gedanken suche ich nach Diagnosen, die mein Handeln
leiten könnten und versuche zugleich, den eigenen Atem zu befragen.
Es dauert eine Weile, bis ich mich genug sammeln kann. Dann öffnet
sich das Feld, in dem ich mich verlässlich orientiere. Meine
rechte Hand legt sich instinktiv auf die Mitte des Oberschenkels.
Das kommt mir fast absurd vor. Die Lungen sind akut bedrängt.
Doch ich folge dem Impuls und spüre schon bald, wie unter meiner
Hand wie feinstes Sprühen Gemmas Lebensenergie
anspringt. Ich lege meine andere Hand auf ihre obere Lunge und horche
nach innen. In dem Maß, wie der innere Atem sich ausbreitet,
wird der äußere Atem stiller. Wenn der Organismus umschalten
kann auf den Atem der Zellen, braucht er viel weniger Sauerstoff.
Der eingeengte Zustrom reicht, um alle Zellen zu versorgen. Gemma
liegt entspannt und wie in Atem gehüllt da. Ihr Gesichtsausdruck
sagt mir, dass ich gehen kann.
Als ich zu Hause
war, kam ihr Anruf. Sie fühle sich sehr erfrischt. Keine Atemnot
mehr. Und das Glücksgefühl sei noch da. Auch ich fühlte
mich auffallend erfrischt nach dieser Stunde. Ich träumte in
der folgenden Nacht: Ich gehe mit meinem Mann die Quelle suchen
unterhalb von Gemmas Garten. Wir finden sie, ganz verdeckt von einer
Schicht aus modrigem Laub und Gezweig und legen sie frei.
Der Traum bestätigt den instinktiven Impuls, dem ich gefolgt
bin. Er macht aufmerksam auf das, was zu tun ist, damit die Lebensenergie
wieder frei fließen kann. Mit der Quelle unterhalb des
Gartens nimmt der Traum ein Bild aus der Atemlehre von C.
Veening auf. Wie in den Lehren des Ostens wird auch hier das Basiszentrum
unterhalb des Körpers lokalisiert. Veening verstand die Wirkung
der kleinen Quelle als magnetische Anregung, die aus
dem Erdkontakt kommt. Wenn der Atemimpuls von diesem Ort ausgeht,
bringt er nicht nur eine überraschende Belebung. Immer wieder
erstaunt mich, wie aufdeckend diese kleine, fast unmerkliche Regung
wirken kann. Das entspricht einer frühen Erkenntnis vom Atem.
In den Sprüchen Salomos heißt es, der Odem des
Menschen ist eine Leuchte Gottes. Sie durchspäht alle Kammern
des Leibes.(5) Das hebräische Wort
ist neschama f. und bedeutet: Atem Lebenskraft Lebensprinzip
forschender Geist.(6) Die Begegnung
mit dem Atem als neschama berührt die transpersonale Ebene.
Sie verbindet mit ihr.
...
die >spendende Mutter<, die >Bilder<, der >Same<
Um Botschaften
aus den Tiefenschichten des Leibes zu empfangen, braucht es einen
inneren Sinn, der die Ebenen durchschreiten und ihren vielgestaltigen
Ausdruck vermitteln kann. Er lässt sich in etwa mit der transzendenten
Funktion vergleichen. Im Zusammenspiel von bewusster und unbewusster
Wahrnehmung verändert sich die Fähigkeit des Spürens.
Sie wird zur sinnlichen Präsenz im Augenblick. In ihr können
Ich und Selbst sich nah berühren. Die Einwirkung geschieht
unmittelbar. Erst im Bewusstwerden differenziert sie sich in Empfindungen
und Intuitionen. Gedanken und Gefühle tauchen auf. Die Arbeit
an der Integration beginnt. Dabei wird die Sprache zur Vermittlerin.
Wenn es gelingt, nicht über das Erlebte, sondern aus dem Erleben
heraus zu sprechen, bleibt die Sprache dicht an den Toren zum Unbewussten
und kann wie die Sprache in den Träumen archetypisches
Wissen durchlassen.
In der Gruppenarbeit
geht es darum, den Atemausdruck mitzugestalten. Ähnlich wie
in der Aktiven Imagination beginnt es mit dem Sammeln und Einkehren
der Sinne. Die Sinne wissen wie es geht. Sie tun es, wenn wir einschlafen.
Während die Wahrnehmung ihnen folgt, verdichtet sie sich zunehmend.
So kann sie geschützt und offen zugleich in den
Innenraum des Körpers eintauchen. Hier kennt sie sich besser
aus, als erwartet. Denn der Spürsinn erinnert sich: Ich
spüre zuerst meine Nasenwurzel, die Nasenflügel, etwas
wie instinktives Wittern, das rasch die Steißwurzel wachruft,
so beschreibt Feline ihren Einstieg. Unwillkürlich bildet
sich im Mundraum Speichel, der mit der Spannung aus der Stirn abfließt.
Der Kopfschmerz, mit dem ich aus dem anstrengenden Arbeitstag kam,
ist kaum noch zu spüren. Der innere Atem lässt zuerst
die Achselhöhlen, dann die Leistenbeugen weich und durchlässig
werden. Wo findet er keinen Weg? Lange irrt mein Atem durch meine
inneren Räume. Lange erspähe ich in der undurchdringlichen
Dunkelheit gar nichts. Mein Körper gibt keine Antwort. Plötzlich
stoße ich auf das Zwerchfell, das wie ein Resonanzboden gespannt
ist. Der Atem stößt geradezu gegen das Zwerchfell, von
oben. Es ist so, als wolle er anklopfen. Das Zwerchfell erscheint
mir wie ein dunkler fester Deckel, der den unteren Körperraum
verschließt. Dann, blitzartig, schießt eine Erinnerung
hoch: gekitzelt werden, lachen müssen, vor Vergnügen quietschen
mit Lust und mit Abwehr zugleich, Lachen, bis das Zwerchfell schwingt
und sich spannt, fast weh tut vor Lachen. Es ist die deutliche Erinnerung
an Szenen aus meiner frühen Kindheit. Überraschend, das
Bild meines Bruders, wie er mich kitzelt, wie wir beide vor Vergnügen
toben. Das Bild aus der Kindheit erweckt in mir eine starke Sehnsucht
nach dem Kitzelgefühl, dem aktivierten Zwerchfell. In diesem
Moment (es mögen 20 Minuten vergangen sein, aber die Zeit spielt
keine Rolle und wird als solche in der konzentrierten Innenschau
nicht wahrgenommen) verwandelt sich mein Zwerchfell vom dunklen
Deckel in ein Tierfell. Es ist braunweiß gefleckt und pulsiert
leicht. Ich beginne es zu streicheln. Lange streichle ich dieses
Fell, mein Zwerchfell. In mir breitet sich Zufriedenheit aus. Die
Sehnsucht nach dem unwillkürlichen Lachen, dem überraschenden
Schwingen des Zwerchfells, der Gelöstheit, die man nicht selbst
erzeugen kann? Ich bin dankbar für diese Erfahrung, weil sie
mir einen Weg aus den zum Teil verkrampften Machbarkeits- und Kontrollvorstellungen
im Arbeits- und Liebesleben weist. Nach der Pause geht jede wieder
auf ihre Entdeckungsreise. Durch die sparsame verbale Anleitung
bildet sich in mir zwischen Beckenboden und Zwerchfell
eine Art Tropfsteinhöhle, etwas in langer Zeit durch steten
Tropfen Entstandenes. Unvermittelt wird meine linke Seite sehr warm.
Ich spüre meinen Bruder neben mir sitzen, so, dass ich seine
Körperwärme spüre, ohne Fremdheit oder Ablehnung.
Dieser Faulpelz! Doch der Pelz des faulen Bruders wärmt mich
äußerst angenehm.
Der Text zeigt,
wie schöpferisch die Intelligenz der Organe sein kann. Die
Spannung im Zwerchfell weckt Erinnerung an die Lust, die das Kind
mit dem Bruder geteilt hat. Im Wiedererleben löst sich die
Verkrampfung und mit ihr der Krampf des Bewusstseins. Dann wandelt
sich die Begegnungsebene. Das braunweiße Tierfell taucht auf.
Es lockt zum Streicheln. Und so beginnt ihr aktives Mitgestalten.
Im Wechselspiel von Bild und Empfindung entwickelt sich eine liebevolle
Zuneigung, in der das Zwerchfell zu schwingen beginnt. Und in der
inneren Schwingung spürt sie, dass hier der Ausweg aus der
Fehlhaltung des Bewusstseins liegt. Im Erleben des steten Tropfens
in der Höhle wird ihr ein anderes Zeitmass bewusst. Endlich
kann sie den Bruder akzeptieren, so wie er ist. Damit kommt die
Lust und die Wärme in ihr Lebensgefühl zurück. Beim
nächsten Treffen erzählt Feline von der Wiederbegegnung
mit dem lange gemiedenen Bruder.
Geht es in der
Innenbeziehung um die Aussöhnung mit dem Körper, dem Bruder
Esel wie Franz von Assisi ihn nannte? Der Körper
erhebt seinen Anspruch auf Gleichberechtigung, ja er übt eine
Faszination aus wie die Seele. Ist man noch gefangen von der alten
Idee des Gegensatzes von Geist und Materie, so bedeutet dieser Zustand
eine Zerspaltung, ja einen unerträglichen Widerspruch. Kann
man sich dagegen mit dem Mysterium aussöhnen, dass die Seele
das innerlich geschaute Leben des Körpers und der Körper
das äußerlich offenbarte Leben der Seele ist, dass die
beiden nicht zwei, sondern eins sind, so versteht man auch, wie
das Streben nach Überwindung der heutigen Bewusstseinsstufe
durch das Unbewusste zum Körper führt.
Wenn
die Oberfläche abgeräumt ist, kann es aus der Tiefe wachsen.
Abgeräumt
- wie hart das klingt. In dieser Härte drückt sich eine
Realität aus, die auf dem Weg der Individuation kaum zu umgehen
ist. Wahrnehmen konnte ich nichts. Ich saß im Dunklen,
sagt Lea nach dem ersten Sitzen im Wochenendkurs. Ich fühle
mich geraubt." Geraubt - dieses Wort alarmiert meine Wachsamkeit.
Signalisiert es einen Ichverlust? Nein in der Knappheit der
Formulierung liegt eine starke Sammlungskraft, ein ganzer Mythos
scheint darin eingefaltet. Ich erzähle ihn ihr: Hades, der
Gott der Unterwelt hat Demeters Tochter geraubt, hat Kore von der
blühenden Wiese hinweg ins Totenreich entführt und sich
mit ihr vermählt. Demeter, die Göttin der Erde und des
Korns irrt verzweifelt umher, um die Tochter zu suchen. In wilder
Trauer lässt sie alles Wachstum auf Erden verdorren. Demeter
verstehe ich. Ihre Trauer und ihren Zorn kann ich fühlen. Auch
ich möchte am liebsten die Früchte meiner Arbeit verdorren
lassen. Ich komme ja selbst kaum noch drin vor." Nach dem zweiten
Sitzen sagt sie: Hades war da. Er stand neben mir unbewegt,
kühl, ohne Gefühl. Das war mir angenehm. Von Kore spüre
ich nichts. Sie ist mir fremd." Drei Tage sitzt Lea und wartet,
dass sich etwas zeigt, hält aus, dass es nicht so ist. Erst
am Ende des dritten Tages kommt eine deutliche Veränderung.
Sie teilt sich in der Aufrichtung ihrer Wirbelsäule mit. Die
Sinnlichkeit ist wieder da. Man sieht sie ihr an ein Aufblühen,
das aus der Wurzel kommt.
Was sich im
Prozess von drei Wintertagen so überraschend gezeigt hat, ist
eine Ankündigung. Das Umsetzen braucht noch viel Zeit, Mut
und Durchhaltekraft, um alle Schichten der körperlichen, psychischen
und sozialen Existenz zu durchdringen. Ein Brief von Lea macht das
deutlich: Geraubt ins Dunkel, so erlebe ich es immer noch,
ein gewaltsames unten gehalten werden, einen Raub der Sinne. Es
ist wie ein Sterben, nicht wirklich, eher wie eine Bannung des Seelischen
ins Körperlich-Materielle. Was lässt sich tun? Warten?
Dabei atmend eine winzige Flamme anzünden? Aufsteigen
wie geht das?" Während ich an Lea denke, taucht der Mythos
noch einmal auf. Wie ein Bildcode scheint er den Weg zu beschreiben,
den sie geht: Die Zeit geht hin. Die Menschen leiden unter der Hungersnot.
Sie opfern auf den Altären. Und endlich wird Demeters Klage
erhört. Kore kehrt wieder und mit ihr das Wachsen, Blühen
und Gedeihen. Doch hat sie von den Früchten des Hades gekostet.
So ist sie auf ewig an ihn gebunden. Im rhythmischen Wechsel der
Jahreszeiten vereint sie von nun an das Unten und Oben, das Licht
und das Dunkel, das Werden und Vergehen. Es ist der Wandel in der
vegetativen Natur, den dieser Mythos beschreibt. Ist es innen wie
außen? Im Mai kommt wieder Nachricht von Lea: Persönlich
bin ich aus dem tiefen Dunkel heraus, zwar noch weit von Blühen
entfernt, aber mit dem deutlichen Gefühl einer neuen inneren
Kraft, nicht wild und mächtig, sondern wie etwas sehr Feines,
das überall durchwirkt; von innen heraus wach, mit dem beglückenden
Gefühl wieder denken zu können, geistig präsent zu
sein."
Wenn der aufsteigende
Atemimpuls von selbst kommt, folgt er dem Rhythmus der Natur - außen
wie innen. Wenn der Atem aus der Tiefe wachsen kann, erneuert sich
die Lebensenergie. Sie weckt die Organe. Ihre Kräfte fließen
dem Atemaufbau der Wirbelsäule zu. Je sinnlicher, desto geistiger
können sie sich entfalten.
Anmerkungen
1) mündlich berichtet von Aniela Jaffé
2) Von der Seele im Stoff. In: Heyer, Lucy: Atemschulung als Element
der Psychotherapie. Darmstadt 1970
3) zit. in Veening, Cornelis: Das Bewirkende, Texte aus Erinnerung.
Hrsg. Waldmatter Kreis, AFA-Geschäftsstelle Berlin 1995, S.
15f.
4) Stevens, Anthony: Vom Traum und vom Träumen. München
1996, S. 128ff.
5) Sprüche 20,27 in der Übersetzung von Luther
6) Gesenius, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch
C.G. Jung, GW §10, 195
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