Fachtagung
des Deutschen Arbeitskreises für Konzentrierte Bewegungstherapie
in Bonn zum Thema: Menschenbilder Impulse für
therapeutisches Handeln November 2000
Vortrag Irmela Halstenbach
Das
Inbild finden und fassen
Je sinnlicher, desto geistiger
|
Menschenbilder
An den Anfang
meines Vortrags möchte ich zwei Bilder stellen. Das erste fiel
mir spontan ein, als ich vom Thema dieser Tagung hörte. Ich
fand es in einem Reisebuch.(1) Dort antwortet
Günther Uecker auf die Frage, was er auf seiner Reise durch
Afrika am stärksten verinnerlicht habe:
Zutiefst
erschütterte mich eine Begebenheit am Niger, auf der Höhe
von Tschad. Dort sah ich, wie eine aus der trockenen Steppe auftauchende
Höckerrindherde in das vom Abendlicht vergoldete Wasser zum
Saufen stieg. Der Hirte, der mich anfangs nicht bemerkt hatte, weil
ich so still dahockte, schrie und rief, nachdem die Tiere ihren
Durst gestillt hatten. Allein zurück blieb eine vermutlich
hochschwangere Kuh. Mit allen Vieren tief im Schlamm versackt, sprang
sie mal vorn, mal hinten hoch. Doch ihr Bemühen, an dem steilem,
hier und da vertikal abgebrochenen Ufer hochzugelangen, erschöpfte
sie so sehr, dass sie aufgeben musste.
Da ergab sich zwischen dem Hirten und mir, nachdem er mich bemerkt
hatte, ein vertrautes von Angesicht zu Angesicht, dass mich zutiefst
berührte. Er kramte eine Schnur aus der Tasche, umwickelte
damit die Nasenlöcher und das Maul des ermatteten Tieres, band
eine Schlaufe und behielt das eine Ende in der Hand. Nun konnte
das Tier nicht mehr atmen. Geduldig wartete der Mann ab, dabei mich
anblickend. Ruckartig wurde das Tier von einer Todesangst ergriffen,
aus der es Energie gewann. Wie eine Rakete schoss es in die Luft
und befreite sich so aus dem Sumpf. Kaum heraus, zog der Hirte die
Schnur ab, und es öffneten sich die Nüstern des Tieres.
Diesem Menschen fühle ich mich auf ewig verbunden.
Menschenbilder,
die uns anrühren, rühren an eigene innere Bilder vom Menschsein.
Mir ging es so, als ich Ueckers Erzählung von der Begegnung
mit dem Hirten las. Die Dichte dieser Begegnung ist fast körperlich
spürbar. In diesem von Angesicht zu Angesicht,
in dem der Andere, der Fremde, mit seinem urhaften Instinkt für
das, was Leben retten kann, zugleich der ewig Verbundene
ist, drückt sich etwas aus von dem Gegenüber von Ich und
Instinktnatur in uns selber. Erinnern Sie sich an Menschenbilder,
die zu irgendeiner Zeit Ihres Lebens so unmittelbar auf Sie gewirkt
haben? Was lösten sie aus?
Vielleicht nehmen
wir uns etwas Zeit, um in den Körper hinein zu spüren
und zu fragen: Was bewegt sich in mir? Kann ich mich im Beckenboden
wahrnehmen? Sind meine Füße schon angekommen in diesem
Raum und in diesem Augenblick? Habe ich Lust, zuzuhören? Das
ist eine Frage wert.
Sinnliche Präsenz ist spontan wie ein Kind. Sie langweilt sich
bei Abstraktionen und schweift ab. Das gehört sich nicht
sagt die Erziehung. Und so versäumen wir, auf die Gründe
zu achten, warum die Aufmerksamkeit abschweift. Um des Themas willen
bitte ich Sie, das hier und heute anders zu halten. Denn wer weiß,
was gerade jetzt aus der leiblichen Erinnerung aufsteigt und mit
ins Bild kommen möchte? Vielleicht ist da ein viel näherer
Bezug zu entdecken, als die Gedanken eines Vortrags ihn ansprechen
können. Wir machen vom Länderreichtum des Ichs viel
zu kleine und enge Messungen, wenn wir das Unbewusste, dieses wahre
innere Afrika auslassen. ( Jean Paul )
Das Abenteuer der Selbstwahrnehmung in den Tiefenschichten des Leibes
ähnelt einer Reise ins Innere eines fremden Landes. Da, wo
wir hinkommen, kennen wir uns nicht aus. Wir sind auf Begegnungen
angewiesen die uns in das Unbekannte einführen Innen wie
Außen.
Ich habe noch
ein zweites Menschen-Bild mitgebracht, eine Gewebetafel
aus einem taoistischen Kloster, die den Weg des Atems entlang der
Wirbelsäule darstellt. Der Weg des Bewusstseins wird auch der
Kreislauf des Lichts genannt. Das Bild stellt ihn als
einen Weg durch die innere Natur dar. Da ist am unteren Steißtor
das Schöpfrad zu erkennen. Zwei Kinder, ein Mädchen und
ein Junge, tragen die Wassereimer. Als Yin und Yang verkörpern
sie die schöpferische Kraft der Keimdrüsen in ihrer Polarität.
Hinterm Nabel erkennen wir den Pflüger, der mit dem Ochsen
seine Furchen in die Erde zieht. In der Nierengegend sitzt die Spinnerin
und spinnt ihren Faden. Er zieht sich aufwärts zum Rückenmark
hin. Im Herzraum hat der Kuhhirte seinen Ort. Er wirft Goldstücke
zum Himmel hinauf. Eine Pagode steht da, wo der Weg durch den Hals
zum Hinterkopf führt. Und über die Elsternbrücke
geht es in den Mundraum hinein. In der Kopfmitte trägt der
blauäugige Barbarenmönch. Mit seinen Händen scheint
er den Himmel zu tragen. Und oben unterm Schädeldach ist Lao
Tse zu erkennen, der dort sitzt und die Stille wahrt.
Heute geht es mir nur um einen bildhaften Eindruck von der Vielgestaltigkeit
der inneren Organ-Landschaft, wie sie in den östlichen Weisheitslehren
tradiert wird. Wer mehr wissen möchte, findet Literaturhinweise
am Ende des Textes.(2)
Je sinnlicher,
desto geistiger
Diesen Satz
im Untertitel meines Vortrags hörte ich vor Jahren in einem
Lindauer Vortrag über Paare im Werk Chagalls.(3)
Alfons Rosenberg sagt dort von der andächtigen Schöpfungsbetrachtung
Chagalls, sie sei eine leidenschaftliche und das Ganze
der Sinnenwelt umfassende Weise die Schöpfung zu verstehen,
gipfelnd in der wahrhaft biblischen Sentenz des Novalis: Je
sinnlicher, desto geistiger. Vielleicht erinnern sich Einige
von Ihnen an diesen Vortrag? Irgendwie unerhört blieb dieser
Satz im Raum stehen. Unerhört im doppelten Sinn des Wortes.
Manchmal habe ich das Gefühl, dieser Satz steht immer noch
da und wartet darauf, gehört zu werden. Zu Beginn des Jahres,
als täglich neue Enthüllungen über Perversionen der
Sinnlichkeit über Gewaltpornos, über den Missbrauch
von Kindern und die Rolle des Sextourismus dabei uns ein
grauenerregendes Menschenbild vor Augen hielten, konnte ich mich
nicht entschließen, meinen Untertitel ins Programmheft zu
setzen. Er klang in meinen Ohren wie Hohn. Legt er den Finger in
eine Wunde, an der jeder Mensch auf seine Weise leidet gesellschaftlich
und individuell?
Je sinnlicher,
desto geistiger? Kennen Sie das auch, am Schreibtisch zu sitzen,
sich in Gedankengänge zu vertiefen und gar nicht zu merken,
wie die Füße kalt werden? Wie alle Energien sich im Kopf
zusammengeballt haben und die Sinne es nicht einmal mehr merken?
Sogar am Meer entlang laufend entdecke ich mich hin und wieder als
Eine, die in ihre Gedanken versunken, weder den Sand unter den Füßen,
noch den Wind im Gesicht, noch den Schrei der Möwe mit den
Sinnen erlebt. Ich erschrecke, wenn ich es merke. Es fühlt
sich wie Schuld an. Versäumtes Leben. Gedankenverlorene Zeit.
Im Erschrecken sammelt sich das Bewusstsein. Es lässt sich
wieder ein. Es schwingt mit dem Atem, vibriert in der Aufrichtung
der Wirbelsäule, geht im Maß der Schritte, orientiert
sich im Tasten der Füße, öffnet sich dem Wind, dem
Schrei der Möwe, dem Geruch des Meeres. Und wo sind die Gedanken
geblieben? Der Kopf ist leer. Die Leere ist still. Die Sinne sind
offen und nehmen auf. Sie schöpfen aus allem, was ist. Inspirationen
kommen aus einer tieferen Schicht je sinnlicher, desto geistiger.
Nach innen gewendet, kann dieser Satz eine Türe öffnen
zur Begegnung mit dem anderen Pol, mit der verborgenen Instinktnatur
in uns selbst.
Die Bewusstseinsentwicklung
hat ein Opfer gekostet, das uns als Verlust erst allmählich
spürbar wird. Die selbstverständliche Rückverbindung
zum Instinkt gelingt nicht mehr. Irgendwann haben wir den Anschluss
an die Natur verpasst. In der Regel merken wir das kaum, da ja alles
irgendwie geregelt ist. Wir realisieren es erst, wenn wir mit der
angemessenen Achtung Menschen begegnen, die an dieser Entwicklung
nicht teilgenommen haben. Ich fand ein schönes Beispiel dafür
im Buch des Architekten Otto Bartning: Erde, Geliebte.(4)
Zu Anfang des Jahrhunderts hat Bartning einige Wochen im Haus eines
alten Indios gelebt. Er schreibt über diese Begegnung: Riechen,
Schmecken und mit den Händen greifen war und galt hier wie
Gedanken, und ich spürte, dieser Alte denkt mit seinen Sinnen.
Plötzlich sah ich Dich, Großvater, mit verschränkten
Armen auf das Pult gestützt, und ahnte, dass Gedanken Dir wie
Sinne und Hände waren, und mir ahnte Deine unsre
Größe und Gefahr.
Es tut gut,
zu sehen, wie Bartning das geistige Element in beiden Alten erkennt
und gleichwertig nebeneinander stellt. Sinne und Gedanken Werkzeuge
im Erkenntnisprozess unterschiedlicher Kulturen, die unterschiedlich
entwickelt und ausgeprägt worden sind.
Das Inbild
Ich habe dieses
Wort gewählt, weil es so wenig begrifflich ist und darum
wie ich hoffe relativ frei von Vorstellungen. Ist es ein
Bild? Oder ist es das ein Bild Bewirkende? Die Unbestimmtheit ist
mir an dieser Stelle gerade recht. Wir können Wirkungen wahrnehmen
und aus dem Bewirkten auf ein anordnendes Prinzip schließen.
Doch das Urbild vom Menschsein ist unanschaubar. Es gehört
zum kollektivsten Potenzial des Unbewussten und ist zugleich so
individuell wie ein Fingerabdruck. Instinkte und archetypische Prägung
entsprechen einander.(5) Wer sich mit Achtsamkeit
und einiger Übung ins unbewusste Leibgeschehen hinein vertieft,
kann für Augenblicke solche Prägungen wahrnehmen.
Die Suche nach
dem Menschenbild im Inneren folgt der Ahnung, dass in den Tiefenschichten
des Unbewussten das Instinktwissen zu finden sein muss, das uns
im Lauf der Bewusstseingeschichte fremd geworden ist, weil wir es
scheinbar nicht mehr brauchen. Brauchen wir es nicht mehr? Mit dem
Zugang zum Instinktwissen haben wir auch den Zugang zu einer geistigen
Qualität verloren, die zur Vollständigkeit des Menschen
dazugehört. In den frühen Kulturen taucht sie als Naturgeistigkeit
auf und sie trägt die Züge einer weiblichen Gestalt.
Naturwissen gehört zu den geheiligten Bereichen der frühen,
weiblichen Kulturen. Es war der Göttin geweiht. Beim Anschauen
der Ausgrabungen von Marija Gimbutas(6) haben
mich in diesem Jahr die Göttinnen in Tiergestalt besonders
angesprochen. Sie lassen etwas ahnen von der animalen Kraft des
Instinktwissens, das die Göttin sowohl darstellt, als auch
hütet und bewahrt. Zur gleichen Zeit, in der die westlichen
Zivilisationen sich dem Körper mit einer neuen Achtung zuwenden,
ist eine Fülle von archäologischen Funden aus matriarchalen
Kulturen ausgegraben worden und schon Entdecktes wird aus weiblicher
Sicht neu gedeutet. Ein gutes Beispiel dafür hat mir die schwedische
Archäologin Kristina Berggrén erzählt. Da gibt
es diese weiblichen Skulpturen mit den vorgewölbten Augen,
die einen Querschlitz in der Mitte haben. Im archäologischen
Sprachgebrauch werden sie die Kaffeebohnenaugen genannt.
Das macht keinen Sinn, zumal, wenn sie aus Gebieten stammen, in
denen nie Kaffee angebaut worden ist. Viel naheliegender sind sie
als Darstellungen der Vulva zu verstehen und damit auch in ihrer
Bildaussage erkennbar:
Die Frau sieht die Welt durch ihr Weiblichsein hindurch. Ihre Sichtweise
ist die ihrer weiblichen, erotischen Bezogenheit. Was Otto Bartning
über das Denken mit den Sinnen sagt, könnte hier den entsprechenden,
weiblichen Aspekt beschreiben je sinnlicher, desto
geistiger.
Anscheinend
ist die weibliche Weisheit am ehesten da zu finden, wo wir stofflich
sind. Als geistige Potenz, so scheint mir, könnte sie mitten
in der Materie ihren Ort haben und dort wirken wie Sophia,
die Weisheit, die ihre Lust hat an der Erde und an den Menschenkindern.(7)
Erich Neumann spricht von Sophia als dem Archetyp des weiblichen
Geistes. Ihre Weisheit sei wie der Duft einer Blüte und
von dieser nie zu trennen.(8)
Ist sie darum so verborgen? Wer die Weisheit in ihrem Ursprung erkennen
und finden will, muss zu den Quellen gehen und dort nach ihr fragen
und forschen. Abstrahieren herausziehen aus ihrem eigenen Boden lässt sie sich nicht. Hier liegt der gravierende Unterschied
zwischen dem weiblichen Geist und dem männlichen Geist, den
wir in unserer Kultur und ausschließlich als Geist verstehen.
Das Je sinnlicher, desto geistiger führt uns mitten
hinein in die weibliche Natur der Schöpfungsbetrachtung.
Und diese ist nicht nur eine Sache der Frauen. Auch der Mann ist
mit weiblichem Geist begabt. Nur ist diese Begabung kulturell abgewertet
worden und darum unterentwickelt geblieben.
Im Hebräischen
sind alle mir bekannten Worte für Atem weiblich. Evelyn Schmidt
hat in ihrer Einleitung an einen Atemtext aus den Sprüchen
Salomos erinnert: Der Odem des Menschen ist eine Leuchte Gottes,
sie durchspäht alle Kammern des Leibes.(9)
Das Wort neshamá wird in den meisten Bibelübersetzungen
mit Geist übersetzt. Im hebräischen Wörterbuch steht:
neshamà = Atem, Lebenskraft, Lebensprinzip, forschender Geist.
Im Bild vom Atem als Leuchte, die die dunklen Kammern des Leibes
durchforscht, lässt sich eine Parallele zum taoistischen Kreislauf
des Lichts erkennen, wie ihn die Gewebetafel darstellt.
Das Hebräische
ist sehr differenziert und ausdrucksvoll, um den Atem in seiner
Vielschichtigkeit zu erfassen. Außer neshamá gibt es
noch andere Bezeichnungen für Atem.
nèfesh bedeutet: Atem und Seele, Lebensgier (griechisch:
psyché)
ruách = Hauch und Geist, Wind, Duft wehen, fächeln,
riechen, wittern, flüchtig berühren(10).
( griechisch: pneuma )
Die ruách man hört es ihr an steht für
eine ganze Palette von Erscheinungsformen. Ruách ist die
Weisheit, die am Anfang über den Wassern schwebte oder
der Geist, der über den Wassern brütete. Bei
Hermann Gunkel fand sich eine Stelle, die den Naturzusammenhang
von Atem und Geist im mythologischen Bild noch sichtbarer macht:
Die Entstehung der Welt denkt man sich als Analogie zur Entstehung
des Vogels im Ei. Die Gottheit wird dabei als brütender weiblicher
Vogel vorgestellt. Sie brütet das Weltei aus. Schon in sehr
alter Zeit ist an die Stelle der Göttin eine Abstraktion getreten.(11)
Auch hier ist das Motiv des Abstrahierens zu erkennen. schon
in sehr alter Zeit ist die ruach vom Bild der brütenden
Göttin abgelöst und zunehmend patriarchalisiert worden.
Und so ist das Weibliche als schöpferische Kraft immer tiefer
ins Unbewusste gesunken und mit ihm das Wissen von der ureigenen
Naturgeistigkeit des Menschen.
Es hat mir Freude
gemacht, dem Atem in die Tiefenschichten der Sprache zu folgen einer Sprache, die ich vor langer Zeit gelernt und dann fast ganz
vergessen habe. Eine Freude ähnlich der, die ich empfinde,
wenn ich dem Atem in die Tiefenschichten des Leibes folge. Wenn
mein Bewusstsein dem Atem folgt und wahrnimmt, wie er die
Dunkelkammern des Leibes durchforscht, wird die eigene Anatomie
von innen her belichtet. Die Organe zeigen sich in ihrer erstaunlichen
Intelligenz. Sie zeigen sich differenziert in ihrer körperlichen
Funktion, im seelischen Ausdruck und im geistigen Gesetz. So öffnet
sich wieder frühes instinktives Wissen und wird zum Bewusst-Sein vom Zusammenwirken der Organe vom inneren Aufbau der Wirbelsäule
und den mit ihr verbundenen Energiezentren von den Drüsenverbindungen von den unterschiedlichen Hirnsphären und ihren Ausdrucksebenen.
Wahrnehmung
entwickelt sich im Umgang mit der organischen Lebendigkeit im Körper.
Auch in der Innenbegegnung gibt es eine erotische Anziehung. Die
Sinne müssen eine natürliche Witterung haben für
den subtilen inneren Atem einen Riecher, mit dem sie den
Duft und die Blüte erspüren, die dem Bewusstsein
fern und unerreichbar erscheinen. In der indischen Chakrenlehre
sind die Energiezentren entlang der Wirbelsäule als Blüten
dargestellt. Die Sinne nehmen ihre Spur auf und öffnen den
Weg nach innen. Sie stellen sich auf das Empfangen subtiler Botschaften
ein. Es ist ein weiches, absichtsloses Offensein, das am ehesten
zu dieser inneren Wahrnehmung hinführt. Es darf nie ein Drängen
sein. Denn die Atemnatur ist scheu. Sie verbirgt sich vor dem Zugriff
des Bewusstseins. Darum muss die Wachheit des Ichs immer wieder
zurückgenommen werden, um die Weichheit der Hingabe zu finden.
Nur so können sie sich finden und vereinen das Ich und die
Naturweisheit.
Manchmal tut
es gut, dem Thema vom Duft und der Blüte auch unmittelbar im eigenen Leib nachzuspüren. Wenn Sie Ihre Nasenwurzel
weich öffnen, wie für den Duft einer Rose wenn Sie leicht
und wie von selbst nach innen spüren bis in die Steißwurzel
hinein und tiefer bis zur kleinen Quelle im Beckengrund dann lassen sich die zarten Atemimpulse vielleicht für einen
Augenblick wahrnehmen, die das Sitzen so lebendig machen und den
Geist erfrischen. Eine Frage ist, ob Sie von hier aus den Worten
des Vortrags folgen können? Lässt sich aus der Einwurzelung
heraus auch leiblich denken?
Der Weg in den
Inneren Kreislauf des Atems führt in die früheste Atemerfahrung
des Lebens, in die Urerfahrung im Mutterleib hinein. Wir atmen ja
nicht erst seit der Geburt. Die Zellen atmen vom Augenblick ihres
Ursprungs an und empfangen in den ersten neun Monaten den größten
Teil der Bildung, die ein Mensch im Lauf seines ganzen Lebens aufnehmen
kann. Es ist eine Bildung im doppelten Sinn. Während der Leib
des Kindes gebildet wird, speichern die Zellen die ganze Fülle
des Artwissens. Die Zellen bewahren es ob wir dieses Wissen abrufen
können oder nicht. In der frühen Erfahrung liegt ein Wissenspotential,
das viel differenzierter und älter ist als alles, was wir später
dazulernen. Seelische und körperliche Prozesse sind im Inneren
Kreislauf nicht voneinander geschieden. Was von hier ausgeht, ist
leibseelischer Natur und gehört zur psychosomatischen Grundausstattung
des Menschen. Tiefenpsychologisch gesehen reicht der Innere Atem
ins kollektive Unbewusste hinein. Daher verschwimmen hier die Grenzen
zum Transpersonalen. Ursprüngliche Natur und religiöse
Erfahrungen atmen im gleichen Raum.
Finden und Fassen
Suchen geht
vom Ich aus. Finden ist die Gnade einer Begegnung, die wir nicht
selbst bestimmen, nicht vom Bewusstsein her konstellieren können.
Hier sind die Grenzen jeder Methodik. Die selbstheilenden Kräfte
können auf unterschiedliche Weisen angesprochen und geweckt
werden. Ihr Kommen ist immer spontan.
Das als Menschenbild vom Künstler und Hirten vermittelt etwas
vom absichtslosen Aufeinanderzukommen, in dem das Ich und die Instinktnatur
sich begegnen. Wenn das Ich nur still genug dahockt,
kann es sein, dass der Hirte mit der Herde zum Fluss zieht. So kann
das von Angesicht zu Angesicht geschehen, in dem das
ewig Verbundene sich für einen Augenblick erkennt.
Wo es um die
Atemprozesse im Unbewussten geht, reichen die Parameter des Bewusstseins
nicht aus. Ich muss mich auf das Fremd- und Anders-Sein meines Unbewussten
einlassen, um den Atem im Inneren Kreislauf wahrzunehmen und ihn
auf mich wirken zu lassen. Aus der persönlichen Annäherung
heraus lassen sich mit der Zeit auch Aussagen zum Gesetz des inneren
Atems machen.
Den Atem auf
seinem Weg durch die Organe zu begleiten, hat mit ursprünglicher
Entdeckerfreude zu tun. Wie ein Kind seine Welt erforscht ? unbelastet
von Wissen, das gemessen, gewogen, getestet und ausgewertet werden
kann, lässt sich das Bewusstsein auf die Welt des inneren Atems
ein, lässt sich von ihm in unbekannte Schichten des Körper
hinein führen. Wo Atembewegungen erkennbar werden, kann die
Wahrnehmung ihnen folgen. Dabei darf die innere Ordnung möglichst
wenig beeinflusst oder gestört werden. Mit der Zeit stört
sich das Atemgeschehen immer weniger an der Anwesenheit des Bewusstseins.
Es kann für Augenblicke dabei sein und zuschauen, wie die Natur
atmet.
Das Zuschauen,
wie die Natur atmet, lässt sich auf einfache Weise erlernen,
wenn die Sinne morgens erwachen. Wie ein Kleid aus feinem Stoff
sich entfaltet, so entfaltet sich das Bewusstsein, wenn es sich
aus dem Schlaf erhebt.(12) Noch ist das Ich
traumverhangen. Noch fließt der Atem ungestört durch
die inneren Bahnen. Beide, das erwachende Ich und die im Schlaf
arbeitenden Organe sind noch nah beieinander, eins dem anderen zugewandt.
Auch am Abend, wenn die Sinne sich wieder schließen, kann
das Bewusstsein ihnen relativ leicht auf dem Weg ins Innere folgen.
Die Sinne wissen, wie es geht. Das Einfalten der Sinne hat etwas
mit der Einfalt zu tun. Sie gehört zu den drei
Tugenden der Mystik gehört, von denen Johannes Tauler spricht.
Lauterkeit, Gelassenheit und Einfalt sind für ihn die Wegbegleiter
zur Innenschau.(13) Wir hören in diesem
Wort heute eigentlich nur noch: dumm oder beschränkt
sein. Warum nicht? Es geht um Beschränkung. Das Abdunkeln
des hellen Intellekts gehört zum Eintauchen in den Innenraum
des Körpers, so wie es zur Meditation gehört. Das so viel
sanftere Licht im Innenraum des Körpers, das Licht der neshamá,
ist anders gar nicht zu erkennen.
Die Wahrnehmung
lernt aus Erfahrungen. Dieses Von-Innen-Lernen hat Parallelen zum
Lernen der Tiere. Der REM-Forscher Jonathan Winson spricht von einem
neuronalen Tor-Mechanismus, der es ermöglicht, dass dem jungen
Tier träumend Überlebensstrategien eingearbeitet
werden. Im Wachzustand sind die Tore geschlossen. Wenn das
Tier einschläft, öffnen sie sich langsam und lassen die
Neurotransmitter durch.(14) Diese Aussage
von Winson erinnert an Beobachtungen, die ich bei der Arbeit im
Inneren Kreislauf des Atems immer wieder mache. Während die
Wahrnehmung sich in einem Bereich aufhält, in den wir normalerweise
nur schlafend gelangen, nehme ich wahr, wie sich solche inneren
Tore öffnen. Wenn das Bewusstsein über einen längeren
Zeitraum an der fließenden Innenbewegung teilnimmt, werden
ihm Botschaften aus den Tiefenschichten der Zellen zugetragen.
Natürlich braucht es eine Zeit der Anpassung an das innere
Milieu, ehe solche Botschaften verlässlich erkannt und vom
Bewusstsein aufgenommen werden können. Doch je länger
das stille Wahrnehmen im Innenraum des Körpers geübt wird,
desto weiter öffnen sich diese Tore. Wie ich vermute, öffnen
sie den Zugang zu einer präexistenten Ordnung, die als Artgedächtnis
dem Leib eingeprägt ist. C.G. Jung spricht von Urprägungen,
die im kollektiven Unbewussten zu finden sind. Der Weg des Atems,
der die Wahrnehmung bis in die Tiefenschichten innerer Prozesse
hineinführen kann, wird so zu einem leiblich erfahrenen Lehrweg.
Lenas Bild fällt mir dazu ein. Sie hat eine angespannte, eher
misstrauische Beziehung zu ihrem eigenen Körper. Sie wagte
sich bisher nur zögernd an die Atemwahrnehmung in der Gruppe
heran. Als sie zum erstenmal die ruhig fließende Bewegung
im Inneren Kreislauf des Atems spürte, war sie verblüfft
über die ganz andere Qualität ihrer Empfindung: Mein
Körper ist eine Friedensuniversität. Da möchte ich
von jetzt an studieren! Aus einer solchen Spontanerfahrung
entwickelt sich oft der persönliche Weg zum angeborenen Körperwissen.
Wer auf die
Suche nach dem eigenen Naturwissen gehen möchte, braucht eine
angemessene Ausrüstung. Schon dabei sind wir aufs Finden angewiesen,
denn Empfindung oder Intuition allein genügen nicht, um sich
in den inneren Schichten des Leibes zu orientieren. Erst wenn beide
wenn bewusste und unbewusste Wahrnehmung sich verbinden,
wenn sie Hand in Hand gehen, kann sich die feine Selbstwahrnehmung
bilden, von der Freud in einem Brief an Arthur Schnitzler schreibt:
So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition
eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung
alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen
aufgedeckt habe.(15) Wenn Empfindung
und Intuition sich vereinen wird die Wahrnehmung rund wie ein Schöpfgefäß.
Und so kann sie die Inhalte aus dem Unbewussten aufnehmen. Auf der
Gewebetafel ist dieses Zusammengehen der polaren Kräfte sehr
anschaulich dargestellt. In den beiden Kindern männlich
und weiblich die das Schöpfrad treten und das Wasser
tragen, kommt das Gesetz von der Vereinigung der Gegensätze
zum Ausdruck, die erst den Zugang zur lebenserneuernden Ganzheit
ermöglicht.
Natürlich
geht es auch in der Innenbegegnung nicht immer friedlich zu. Wer
an der Inneren Beziehung arbeiten will, muss sich auf starke Widerstände
gefasst machen. Denn das Ich versucht sich zu behaupten. Und das
Nord-Süd-Gefälle ist auch im Innenkontakt nicht leicht
zu bewältigen. Erst wenn eine neue Einstellung als Boden für
die Begegnung zwischen Ich und Selbst gefunden ist, beginnt das
innere Zwiegespräch.
Hanna hat über lange Zeit mit dem Konflikt zwischen ihrem Ich
und ihrem vitalen Kräftepotenzial im Unbewussten gerungen.
Dieser Kampf schlägt sich in heftigen Migräneanfällen
nieder. Nach einer Atemstunde schreibt sie in ihr Tagebuch:
Auf dem
Rücken liegend sinke ich tiefer ein, ich sinke in die Erde.
Der warme Strom von den Füßen bis zur Schädeldecke
wird stärker. Ich kann in die Breite hinein kein energetisches
Umfeld spüren, fühle mich schmal, in die Länge gestreckt.
Ich empfinde mich wie eine Gestalt auf einer Grabplatte, streng,
ich liege in der Vertikalen. Mir kommt der Gedanke: ausgestreckt
zwischen Himmel und Erde. Eine Ahnung davon überwältigt
mich, was das bedeutet: ausgestreckt zwischen Himmel und Erde
gleichzeitig erdgebunden und nach oben, zum
Geistigen, zum Himmel gerichtet und bezogen zu sein.
Was für eine Ungeheuerlichkeit! Welche Zumutung! Ich erlebe
und empfinde etwas von der Spannung dieser Existenz, der Spannweite
und der Zumutung. Es ist ganzheitliches Erleben mit Geist, Seele
u. Leib. Nichts Einzelnes, keine Gedanken dieses ausgespannte
Sein selbst fällt mir aufs Herz. Das Erlebnis hat auch
mit Sterben zu tun, aber ich weiß nicht recht, was und wie.
Wenn das Ich
sich wirklich einlässt, stirbt das alte Menschenbild und ein
neues ist noch nicht da. In der therapeutischen Arbeit taucht immer
wieder ein Moment auf, wo das Ich seine Wünsche und Vorstellungen
loslassen muss. Dazu gehören auch Werte, Anschauungen und Ideale,
mit denen wir uns identifiziert haben. Das kann wie ein Sterben
des Ichs erlebt werden. Das Ankommen auf einer tieferen Ebene wird
dann wie eine Erlösung erfahren. Die Gegensätze bekämpfen
sich plötzlich nicht mehr. Da ist Stille eingetreten. Keine
Frage mehr nach dem Sinn. Es ist, wie es ist. Und das Ich nimmt
es an. Solche Zeiten können tief erholsam sein und eine Chance
zur Erneuerung.
In den Einweihungsritualen
aller Völker gibt es das Motiv des mystischen Todes. Eins der
Wandgemälde in Pompeji zeigt eine Initiandin, wie sie am Rand
eines tiefer gelegenen Beckens steht und wartet. Wenn der Ruf kommt,
der ihr gilt, muss sie springen.(16) Dieser
Sprung wurde als geistiger Tod, als Tor zur Wandlung verstanden.
Ein solcher Ruf kann auch durch eine plötzlich auftretende
Krankheit ergehen und er kann den wirklichen Tod ankündigen.
Aus der Tiefe des inneren Wissens heraus wird das Bewusstsein auf
das Sterben vorbereitet und auf dem Weg zum Tod geleitet.
Meine Hände erinnern sich noch immer an den Atem von Verena.
Zwei Jahre vor ihrem Tod lernte ich sie kennen. Es war ein warmer
Sommerabend. Der Duft von Rosen und Apfelbaum kam mit ihr aus dem
Garten herein. Wie weich und offen ihre Haut war. Wie Blüten,
die sich in der Sonne geöffnet haben. Ich staunte über
die pflanzenhafte Sinnlichkeit ihrer Schönheit. Verena hatte
einen dieser modernen Berufe, die hellwache Intelligenz, schnelle
Entscheidungen und eine hohe Fähigkeit zur Stressbewältigung
erfordern. Wie macht sie das, dabei so weich zu sein? Wie macht
sie das, mit einer so weichen, aufnahmebereiten Natur die geforderte
Präsenz aufzubringen, immer auf Sprung zu sein? Einige Wochen
später traf ich sie auf einer Geburtstagsparty. Es war eine
andere Verena, die ich dort sah. Sind alle Blütenblätter
heute geschlossen? Wieder hatte ich diesen vegetativen Eindruck
von ihr und dazu das Gefühl: sie passt nicht hierher. Kann
sich ihre Schönheit auf diesem Boden nicht entfalten?
Verenas Atem lernte ich im Jahr darauf kennen. Sie war an einer
dieser rapiden Krebsarten erkrankt, die kaum noch eine Chance lassen.
Nach der Chemotherapie besuchte sie mich zum erstenmal und wie erstaunt
war ich, als ich ihren Atem berührte. Da war sie wieder, diese
weiche Hingabe an das Leben. Nur bei kleinen Kindern und bei Menschen,
die noch ganz in ihrem Kollektiv geborgen leben, habe ich den Atem
so ungestört fließend gefunden. Wieder war da diese vegetative
Gelöstheit, die mich schon damals so berührt hatte eine
Hingabe ohne Vorbehalt. Die Hingabe an den Tod? Wehrt sie sich denn
nicht? Ich fand keinen Ansatz zur Kampfbereitschaft, keinen vitalen
Impuls, den ich hätte aufnehmen können. Kann das Ich so
tief eins sein mit der Natur? Eins-Sein auch mit dem Leiden an ihr?
In der zweiten Stunde, als meine Hände am Sonnengeflecht arbeiten,
weinte sie still vor sich hin. Ich bin bereit zum Sterben.
Dass mein Mann so leidet, tut mir sehr weh.
In der dritten und letzten Stunde war sie wieder da, diese weiche
Gelöstheit, die sich bis in ihre Haut hinein öffnete,
in der sich ihr Wissen vom Tod bezeugte sinnlich und geistig zugleich.
Impulse für therapeutisches Handeln im Atem anderer
Während
der Arbeit am Inneren Atem tauchen oft spontane Impulse auf. Ich
denke, dass ist in therapeutischen Situationen oft der Fall. Die
Frage ist, wie gehen wir mit den spontanen Impulsen um? Sie legen
mir hin und wieder nahe, in einer bestimmten Weise zu arbeiten,
obwohl ich noch kaum verstehe, warum. Meine Hände verstehen
es. Sie sind bei der Arbeit an den eigenen Inneren Atemkreislauf
angeschlossen und nehmen die entsprechende Innenbewegung darum auch
in Anderen wahr. Als Beispiel erzähle ich einen Ausschnitt
aus einer Einzelstunde mit Hanna:
Heute ist ein Migränetag. Wir haben lange am Rücken und
an den Füßen gearbeitet. Sie konnte meine Anregungen
gut aufnehmen und umsetzen. In den Füssen ist eine gute Basis
entstanden, auf der sie aufbauen kann. Ich spreche die Breite im
Beckenraum an. Ist da ein Zuviel an vitaler Energie, das in den
Kopf drängt? Ich spreche es an. Die Geschlechtskraft
nicht hochziehen! Sie kann sich ans Sacrum anschließen.
Dir Frage taucht auf, ob die Migräne hier ihren Ursprung hat?
Das Bild von der hochgezogenen Kraft begleitet mich noch eine Weile.
Es taucht in der Leibmitte erneut auf. Der horizontale Atem im Raum
der Nieren, den wir vom Rücken her schon angesprochen haben,
steht jetzt für die Arbeit am Sonnengeflecht zur Verfügung.
Emotionen unterm Zwerchfell lassen! möchten meine
Hände sagen, sie weich zurücknehmen und zur Wirbelsäule
hin fließen lassen. Nicht in den Kopf nehmen! Nicht denken!
Anscheinend versteht Hanna meine nonverbalen Anregungen. Sie nimmt
sie auf. Die Atembewegung vertieft sich in den Rücken hinein.
Meine Hände gehen jetzt zum unteren Schädelrand. Das geschieht
wieder aus einem spontanen Impuls heraus. Ich habe den Eindruck,
dass wir heute die Basis der Kopfkräfte erreichen können.
Ich versuche über eine sehr nach innen bezogene Bewegung die
feste Struktur etwas zu lockern, damit der Atem sich in die Breite
hinein entfalten kann. Ich habe dabei die Empfindung, unmittelbar
an der Instinktbasis zu sein und diese aufzurufen. In dem Maß,
wie sich die tiefe Schädelbasis öffnet, kann Hanna vom
Schädeldach her eine Verbindung zum Beckenboden finden. Diese
geht bis in die Füße hinein und bewirkt, dass die stark
im Kopf polarisierte Energie sich dem Atemstrom wieder anschließt
und sich in den organischen Zusammenhang einordnen kann.
In der Pause
fällt mir ein, dass ich schon öfter bei Frauen, die an
Migräne leiden, einen starken Energiestrom zum Kopf hin wahrgenommen
habe, der vom Sacrum ausging. Geballte Energie fällt
mir dazu ein. Ist es eine geistige Potenz, die ihren Ort im weiblichen
Raum hat? Ich nehme sie als elektrische Spannung wahr. Bekommt der
Kopf von der Basis her eine zu vitale Ladung, die er in dieser Form
nicht aufnehmen und verarbeiten kann? Es fühlt sich an wie
ein Stau, wie eine Überdehnung in den Gefäßen. (Ich
arbeite tiefenpädagogisch, d.h. meine Hände zeigen auf,
wo sich die Klientin tiefer wahrnehmen und aus der Wahrnehmung heraus
einen tieferen Bezug zur inneren Ordnung finden kann. Um die leibseelische
Bedingung in ihrer vorbewussten Form anzusprechen und einen kreativen
Umgang zwischen dem Ich und dem inneren Atem anzuregen, benutze
ich in dieser Phase eine eher bildhafte Körpersprache. Erst
später, wenn wir die Wahrnehmungen aufarbeiten, geht es ums
Unterscheiden, Zuordnen und Erkennen der körperlichen und psychischen
Anteile).
Am Ende der
Stunde sagt Hanna: Ich spürte, dass meine Füße
ihren Weg gehen können. Sie finden ihren Weg. Ich ziehe aber
noch immer alles in den Kopf. Ich gehe über das Denken. Darum
ist auch jetzt eine Spannung in mir geblieben. Der Kopf will sich
nicht einlassen. Er will alles bestimmen. Ich frage, ob es
einen Zusammenhang geben könne zwischen der vitalen Kraft im
Sacrum und der gestauten Energie im Kopf? Ob die vitale Kraft sich
in den Kopf verirrt hat? Wir lassen es so stehen. Weder bei ihr,
noch bei mir ist eine Lösung da. Eher eine offene Frage.
Wochen später erinnert sie mich an diese Stunde und sagt: Ich
habe bisher vor allem meinem männlichen Geist getraut. Den
weiblichen Geist habe ich ganz früh unterdrückt. Damit
wäre ich weder im Studium noch im Beruf ernst genommen worden.
Jetzt verstehe ich, warum meine Füße sicher sind, ihren
Weg zu finden. Meiner Natur kann ich trauen. Das Weibliche ist viel
stärker, als ich gewusst habe.
Impulse für therapeutisches Handeln in der Selbstwahrnehmung
Auch die Selbstwahrnehmung
empfängt Impulse für therapeutisches Handeln.
Diesen Sommer in Italien bin ich von einer verwitterten Steinstufe
abgerutscht. Beim Aufkommen auf dem Kopfsteinpflaster habe ich mir
das Fußgelenk kompliziert gebrochen. Da saß ich in der
Morgensonne auf der Treppe und realisierte, was passiert war. Mein
Fuß hing haltlos herab und schlockerte ungelenkt hin und her,
als ich das Bein bewegte. Während ich das arg deformierte Fußgelenk
anschaute, tauchte ein Bild auf. Ich sah mein Gelenk von Innen.
Sah, wie die Knochen von Natur her ineinander gefügt sind.
Ihre rosige Farbe fiel mir auf. In der Breite waren feine helle
Linien hin und her gezogen (etwa so, wie Wäscheleinen gespannt
werden). Sie zogen die Knöchel zusammen. Dieses Bild
hatte eine starke Wirkung auf mich. Ich konnte den Gelenkraum von
innen empfinden. Das nahm den Schmerz zurück und gab mir
Halt und Ruhe mitten in der chaotischen Bedingung. Die hellen Linien
zwischen den Knöcheln brachten mich auf die Idee, meinen hellen
Leinenschal vom Hals zu nehmen und ihn fest um das Gelenk zu binden.
Das war eine große Erleichterung.
In Orvieto wurde
das Bein provisorisch in Gips gelegt. Auf der Reise nach Deutschland
tauchte das Gelenkbild immer wieder auf. Immer wieder ging diese
ordnende und haltgebende Wirkung von ihm aus. Als ich Tage später
operiert wurde, stellte man fest, dass der Fuß nicht eingerenkt
war. Ich dachte an die hellen Linien, die mir von Anfang an wie
Handlungsimpulse erschienen waren. Ein solches Bild ruft das Bewusstsein
in die Mitte der Verletzung hinein. Es weist auf die gestörte
Ordnung hin und gleicht sie aus. In den Wochen unterm Gips half
es mir, eine Empfindung für die Innenbewegung im Gelenk zu
finden. Ich bekam Lust, mit der Gewebeflüssigkeit zu spielen
und fand so einen Zugang zur Bewegung mitten in der Bewegungslosigkeit.
Ich vermute, dass das innere Bild den Heilungsprozess sehr unterstützt
hat. Hätte ich den Mut gehabt, mein Gelenk einzurenken, wenn
ich den Hinweis noch realer verstanden hätte?
Schlussbetrachtung
Das Hirtenbild
vom Anfang taucht wieder auf. Naturmenschen müssen eine unmittelbare
Beziehung zu ihren inneren Bildern haben. Wissen allein umherziehende
Hirten auf diese Weise, was zu tun ist, wenn sie sich auf ihren
Wanderungen verletzen? Ich vermute, Impulse aus dem inneren Wissen
sind ursprüngliche Überlebenshilfen und sind es auch heute
noch. Nur auf einer anderen Seinsebene.
Die nahe Beziehung zur eigenen Natur hat sowohl eine sinnliche,
als auch eine geistige Bedeutung für unser inneres Bild vom
Menschsein. Diese Nähe könnte eine Entwicklung begleiten,
die sich im veränderten Menschenbild der Naturwissenschaft
ankündigt. Ich habe mich gefreut, als ich über die neuen
Forschungsergebnisse von Michael Gershon(17)
las. Zur Zeit der Entdeckung eines zweiten Gehirns im
Darm scheint es mir sinnvoll zu fragen:
Wie wäre es, die Intelligenz der Organe im eigenen Leib zu
entdecken, um ganz und vollständig zu sein?
Wie wäre es, im weiblichen Geist die Naturweisheit wiederzufinden
und sie dem Logos gleich würdig zu achten?
Wie wäre es, mit allen Sinnen je sinnlicher, desto geistiger
Mensch zu sein?
Anmerkungen
1) Ernst-
Norbert Jocks, Archäologie des Reisens Dumont,
Köln 1997
2) Erwin Rousselle, Seelische Führung im Taoismus
Eranos-Jahrbuch 1933, Rhein-Verlag Zürich 1956 / Irmgard Lauscher-Koch,
Nei Ging Tu, Bilder der taoistischen Gewebetafel, Texte aus
Erinnerung, Hrsg. Waldmatter Kreis, 1995 / AFA Geschäftsstelle
Berlin
3) Trennung, Hrsg. H. J. Schultz, Kreuzverlag Stuttgart
1985
4) Otto Bartning: Erde, Geliebte, Spätes Tagebuch einer frühen
Reise. Claassen, Hamburg 1955
5) Ich beziehe mich hier auf die Archetypenlehre von C. G. Jung
6) Marija Gimbutas, Die Sprache der Göttin, Verlag
Zweitausendeins
7) Sprüche 8, 31
8) Erich Neumann: Die Grosse Mutter, Rhein Verlag 1956, S. 305 ff
9) Sprüche 20,27
10) Gesenius, hebräisches und aramäisches Handwörterbuch
11) Hermann Gunkel: Schöpfung und Chaos Vandenhoek
und Ruprecht 1921
12) Im Märchen vom Aschenputtel findet sich ein schönes
Bild für die feinstoffliche Entfaltung. Aus der Schale der
Nuss vom Grabbaum der Mutter entfaltet sich das Kleid, mit dem sie
zum Ball geht.
13) bei Johannes Tauler: Einfalt, Gelassenheit, Lauterkeit
14) Jonathan Winson: Meaning of Dreams, Scientific American
Nov.90
15) S. Freud: Briefe an Arthur Schnitzler, Neue Rundschau 66 / S.97
16) Linda David-Fierz: Villa dei Misteri Frauenmysterien
in Pompeji, unveröffentlichter Text
17) Michael Gershon, Professor für Neurobiologie an der Columbia
University New York
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