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Fachtagung des Deutschen Arbeitskreises für Konzentrierte Bewegungstherapie in Bonn zum Thema: „Menschenbilder – Impulse für therapeutisches Handeln“ November 2000
Vortrag Irmela Halstenbach

Das Inbild finden und fassen
Je sinnlicher, desto geistiger

Menschenbilder

An den Anfang meines Vortrags möchte ich zwei Bilder stellen. Das erste fiel mir spontan ein, als ich vom Thema dieser Tagung hörte. Ich fand es in einem Reisebuch.(1) Dort antwortet Günther Uecker auf die Frage, was er auf seiner Reise durch Afrika am stärksten verinnerlicht habe:

Zutiefst erschütterte mich eine Begebenheit am Niger, auf der Höhe von Tschad. Dort sah ich, wie eine aus der trockenen Steppe auftauchende Höckerrindherde in das vom Abendlicht vergoldete Wasser zum Saufen stieg. Der Hirte, der mich anfangs nicht bemerkt hatte, weil ich so still dahockte, schrie und rief, nachdem die Tiere ihren Durst gestillt hatten. Allein zurück blieb eine vermutlich hochschwangere Kuh. Mit allen Vieren tief im Schlamm versackt, sprang sie mal vorn, mal hinten hoch. Doch ihr Bemühen, an dem steilem, hier und da vertikal abgebrochenen Ufer hochzugelangen, erschöpfte sie so sehr, dass sie aufgeben musste.
Da ergab sich zwischen dem Hirten und mir, nachdem er mich bemerkt hatte, ein vertrautes von Angesicht zu Angesicht, dass mich zutiefst berührte. Er kramte eine Schnur aus der Tasche, umwickelte damit die Nasenlöcher und das Maul des ermatteten Tieres, band eine Schlaufe und behielt das eine Ende in der Hand. Nun konnte das Tier nicht mehr atmen. Geduldig wartete der Mann ab, dabei mich anblickend. Ruckartig wurde das Tier von einer Todesangst ergriffen, aus der es Energie gewann. Wie eine Rakete schoss es in die Luft und befreite sich so aus dem Sumpf. Kaum heraus, zog der Hirte die Schnur ab, und es öffneten sich die Nüstern des Tieres. Diesem Menschen fühle ich mich auf ewig verbunden.“

Menschenbilder, die uns anrühren, rühren an eigene innere Bilder vom Menschsein. Mir ging es so, als ich Ueckers Erzählung von der Begegnung mit dem Hirten las. Die Dichte dieser Begegnung ist fast körperlich spürbar. In diesem „von Angesicht zu Angesicht“, in dem der Andere, der Fremde, mit seinem urhaften Instinkt für das, was Leben retten kann, zugleich der „ewig Verbundene“ ist, drückt sich etwas aus von dem Gegenüber von Ich und Instinktnatur in uns selber. Erinnern Sie sich an Menschenbilder, die zu irgendeiner Zeit Ihres Lebens so unmittelbar auf Sie gewirkt haben? Was lösten sie aus?

Vielleicht nehmen wir uns etwas Zeit, um in den Körper hinein zu spüren und zu fragen: Was bewegt sich in mir? Kann ich mich im Beckenboden wahrnehmen? Sind meine Füße schon angekommen in diesem Raum und in diesem Augenblick? Habe ich Lust, zuzuhören? Das ist eine Frage wert.
Sinnliche Präsenz ist spontan wie ein Kind. Sie langweilt sich bei Abstraktionen und schweift ab. „Das gehört sich nicht“ sagt die Erziehung. Und so versäumen wir, auf die Gründe zu achten, warum die Aufmerksamkeit abschweift. Um des Themas willen bitte ich Sie, das hier und heute anders zu halten. Denn wer weiß, was gerade jetzt aus der leiblichen Erinnerung aufsteigt und mit ins Bild kommen möchte? Vielleicht ist da ein viel näherer Bezug zu entdecken, als die Gedanken eines Vortrags ihn ansprechen können. „Wir machen vom Länderreichtum des Ichs viel zu kleine und enge Messungen, wenn wir das Unbewusste, dieses wahre innere Afrika auslassen.“ ( Jean Paul )
Das Abenteuer der Selbstwahrnehmung in den Tiefenschichten des Leibes ähnelt einer Reise ins Innere eines fremden Landes. Da, wo wir hinkommen, kennen wir uns nicht aus. Wir sind auf Begegnungen angewiesen – die uns in das Unbekannte einführen – Innen wie Außen.

Ich habe noch ein zweites Menschen-Bild mitgebracht, eine „Gewebetafel“ aus einem taoistischen Kloster, die den Weg des Atems entlang der Wirbelsäule darstellt. Der Weg des Bewusstseins wird auch der „Kreislauf des Lichts“ genannt. Das Bild stellt ihn als einen Weg durch die innere Natur dar. Da ist am unteren „Steißtor“ das Schöpfrad zu erkennen. Zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, tragen die Wassereimer. Als Yin und Yang verkörpern sie die schöpferische Kraft der Keimdrüsen in ihrer Polarität. Hinterm Nabel erkennen wir den Pflüger, der mit dem Ochsen seine Furchen in die Erde zieht. In der Nierengegend sitzt die Spinnerin und spinnt ihren Faden. Er zieht sich aufwärts zum Rückenmark hin. Im Herzraum hat der Kuhhirte seinen Ort. Er wirft Goldstücke zum Himmel hinauf. Eine Pagode steht da, wo der Weg durch den Hals zum Hinterkopf führt. Und über die Elsternbrücke geht es in den Mundraum hinein. In der Kopfmitte trägt der blauäugige Barbarenmönch. Mit seinen Händen scheint er den Himmel zu tragen. Und oben unterm Schädeldach ist Lao Tse zu erkennen, der dort sitzt und die Stille wahrt.

Heute geht es mir nur um einen bildhaften Eindruck von der Vielgestaltigkeit der inneren Organ-Landschaft, wie sie in den östlichen Weisheitslehren tradiert wird. Wer mehr wissen möchte, findet Literaturhinweise am Ende des Textes.(2)


Je sinnlicher, desto geistiger

Diesen Satz im Untertitel meines Vortrags hörte ich vor Jahren in einem Lindauer Vortrag über „Paare im Werk Chagalls“.(3) Alfons Rosenberg sagt dort von der „andächtigen Schöpfungsbetrachtung Chagalls“, sie sei „eine leidenschaftliche und das Ganze der Sinnenwelt umfassende Weise die Schöpfung zu verstehen, gipfelnd in der wahrhaft biblischen Sentenz des Novalis: „Je sinnlicher, desto geistiger“. Vielleicht erinnern sich Einige von Ihnen an diesen Vortrag? Irgendwie unerhört blieb dieser Satz im Raum stehen. Unerhört im doppelten Sinn des Wortes. Manchmal habe ich das Gefühl, dieser Satz steht immer noch da und wartet darauf, gehört zu werden. Zu Beginn des Jahres, als täglich neue Enthüllungen über Perversionen der Sinnlichkeit – über Gewaltpornos, über den Missbrauch von Kindern und die Rolle des Sextourismus dabei – uns ein grauenerregendes Menschenbild vor Augen hielten, konnte ich mich nicht entschließen, meinen Untertitel ins Programmheft zu setzen. Er klang in meinen Ohren wie Hohn. Legt er den Finger in eine Wunde, an der jeder Mensch auf seine Weise leidet – gesellschaftlich und individuell?

Je sinnlicher, desto geistiger? Kennen Sie das auch, am Schreibtisch zu sitzen, sich in Gedankengänge zu vertiefen und gar nicht zu merken, wie die Füße kalt werden? Wie alle Energien sich im Kopf zusammengeballt haben und die Sinne es nicht einmal mehr merken? Sogar am Meer entlang laufend entdecke ich mich hin und wieder als Eine, die in ihre Gedanken versunken, weder den Sand unter den Füßen, noch den Wind im Gesicht, noch den Schrei der Möwe mit den Sinnen erlebt. Ich erschrecke, wenn ich es merke. Es fühlt sich wie Schuld an. Versäumtes Leben. Gedankenverlorene Zeit.
Im Erschrecken sammelt sich das Bewusstsein. Es lässt sich wieder ein. Es schwingt mit dem Atem, vibriert in der Aufrichtung der Wirbelsäule, geht im Maß der Schritte, orientiert sich im Tasten der Füße, öffnet sich dem Wind, dem Schrei der Möwe, dem Geruch des Meeres. Und wo sind die Gedanken geblieben? Der Kopf ist leer. Die Leere ist still. Die Sinne sind offen und nehmen auf. Sie schöpfen aus allem, was ist. Inspirationen kommen aus einer tieferen Schicht – je sinnlicher, desto geistiger. Nach innen gewendet, kann dieser Satz eine Türe öffnen zur Begegnung mit dem anderen Pol, mit der verborgenen Instinktnatur in uns selbst.

Die Bewusstseinsentwicklung hat ein Opfer gekostet, das uns als Verlust erst allmählich spürbar wird. Die selbstverständliche Rückverbindung zum Instinkt gelingt nicht mehr. Irgendwann haben wir den Anschluss an die Natur verpasst. In der Regel merken wir das kaum, da ja alles irgendwie geregelt ist. Wir realisieren es erst, wenn wir mit der angemessenen Achtung Menschen begegnen, die an dieser Entwicklung nicht teilgenommen haben. Ich fand ein schönes Beispiel dafür im Buch des Architekten Otto Bartning: „Erde, Geliebte“.(4) Zu Anfang des Jahrhunderts hat Bartning einige Wochen im Haus eines alten Indios gelebt. Er schreibt über diese Begegnung: „Riechen, Schmecken und mit den Händen greifen war und galt hier wie Gedanken, und ich spürte, dieser Alte denkt mit seinen Sinnen. Plötzlich sah ich Dich, Großvater, mit verschränkten Armen auf das Pult gestützt, und ahnte, dass Gedanken Dir wie Sinne und Hände waren, und mir ahnte Deine – unsre – Größe und Gefahr.“

Es tut gut, zu sehen, wie Bartning das geistige Element in beiden Alten erkennt und gleichwertig nebeneinander stellt. Sinne und Gedanken – Werkzeuge im Erkenntnisprozess unterschiedlicher Kulturen, die unterschiedlich entwickelt und ausgeprägt worden sind.


Das Inbild

Ich habe dieses Wort gewählt, weil es so wenig begrifflich ist und darum – wie ich hoffe – relativ frei von Vorstellungen. Ist es ein Bild? Oder ist es das ein Bild Bewirkende? Die Unbestimmtheit ist mir an dieser Stelle gerade recht. Wir können Wirkungen wahrnehmen und aus dem Bewirkten auf ein anordnendes Prinzip schließen. Doch das Urbild vom Menschsein ist unanschaubar. Es gehört zum kollektivsten Potenzial des Unbewussten und ist zugleich so individuell wie ein Fingerabdruck. Instinkte und archetypische Prägung entsprechen einander.(5) Wer sich mit Achtsamkeit und einiger Übung ins unbewusste Leibgeschehen hinein vertieft, kann für Augenblicke solche Prägungen wahrnehmen.

Die Suche nach dem Menschenbild im Inneren folgt der Ahnung, dass in den Tiefenschichten des Unbewussten das Instinktwissen zu finden sein muss, das uns im Lauf der Bewusstseingeschichte fremd geworden ist, weil wir es scheinbar nicht mehr brauchen. Brauchen wir es nicht mehr? Mit dem Zugang zum Instinktwissen haben wir auch den Zugang zu einer geistigen Qualität verloren, die zur Vollständigkeit des Menschen dazugehört. In den frühen Kulturen taucht sie als Naturgeistigkeit auf und sie trägt die Züge einer weiblichen Gestalt.
Naturwissen gehört zu den geheiligten Bereichen der frühen, weiblichen Kulturen. Es war der Göttin geweiht. Beim Anschauen der Ausgrabungen von Marija Gimbutas(6) haben mich in diesem Jahr die Göttinnen in Tiergestalt besonders angesprochen. Sie lassen etwas ahnen von der animalen Kraft des Instinktwissens, das die Göttin sowohl darstellt, als auch hütet und bewahrt. Zur gleichen Zeit, in der die westlichen Zivilisationen sich dem Körper mit einer neuen Achtung zuwenden, ist eine Fülle von archäologischen Funden aus matriarchalen Kulturen ausgegraben worden und schon Entdecktes wird aus weiblicher Sicht neu gedeutet. Ein gutes Beispiel dafür hat mir die schwedische Archäologin Kristina Berggrén erzählt. Da gibt es diese weiblichen Skulpturen mit den vorgewölbten Augen, die einen Querschlitz in der Mitte haben. Im archäologischen Sprachgebrauch werden sie die „Kaffeebohnenaugen“ genannt. Das macht keinen Sinn, zumal, wenn sie aus Gebieten stammen, in denen nie Kaffee angebaut worden ist. Viel naheliegender sind sie als Darstellungen der Vulva zu verstehen und damit auch in ihrer Bildaussage erkennbar:
Die Frau sieht die Welt durch ihr Weiblichsein hindurch. Ihre Sichtweise ist die ihrer weiblichen, erotischen Bezogenheit. Was Otto Bartning über das Denken mit den Sinnen sagt, könnte hier den entsprechenden, weiblichen Aspekt beschreiben – „je sinnlicher, desto geistiger“.

Anscheinend ist die weibliche Weisheit am ehesten da zu finden, wo wir stofflich sind. Als geistige Potenz, so scheint mir, könnte sie mitten in der Materie ihren Ort haben und dort wirken – wie Sophia, die Weisheit, „die ihre Lust hat an der Erde und an den Menschenkindern.“(7) Erich Neumann spricht von Sophia als dem Archetyp des weiblichen Geistes. Ihre Weisheit sei „wie der Duft einer Blüte und von dieser nie zu trennen“.(8)
Ist sie darum so verborgen? Wer die Weisheit in ihrem Ursprung erkennen und finden will, muss zu den Quellen gehen und dort nach ihr fragen und forschen. Abstrahieren – herausziehen aus ihrem eigenen Boden – lässt sie sich nicht. Hier liegt der gravierende Unterschied zwischen dem weiblichen Geist und dem männlichen Geist, den wir in unserer Kultur und ausschließlich als Geist verstehen. Das „Je sinnlicher, desto geistiger“ führt uns mitten hinein in die weibliche Natur der „Schöpfungsbetrachtung“. Und diese ist nicht nur eine Sache der Frauen. Auch der Mann ist mit weiblichem Geist begabt. Nur ist diese Begabung kulturell abgewertet worden und darum unterentwickelt geblieben.

Im Hebräischen sind alle mir bekannten Worte für Atem weiblich. Evelyn Schmidt hat in ihrer Einleitung an einen Atemtext aus den Sprüchen Salomos erinnert: „Der Odem des Menschen ist eine Leuchte Gottes, sie durchspäht alle Kammern des Leibes.“(9) Das Wort neshamá wird in den meisten Bibelübersetzungen mit Geist übersetzt. Im hebräischen Wörterbuch steht: neshamà = Atem, Lebenskraft, Lebensprinzip, forschender Geist. Im Bild vom Atem als Leuchte, die die dunklen Kammern des Leibes durchforscht, lässt sich eine Parallele zum taoistischen „Kreislauf des Lichts“ erkennen, wie ihn die Gewebetafel darstellt.

Das Hebräische ist sehr differenziert und ausdrucksvoll, um den Atem in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen. Außer neshamá gibt es noch andere Bezeichnungen für Atem.
nèfesh bedeutet: Atem und Seele, Lebensgier (griechisch: psyché)
ruách = Hauch und Geist, Wind, Duft – wehen, fächeln, riechen, wittern, flüchtig berühren“(10). ( griechisch: pneuma )
Die ruách – man hört es ihr an – steht für eine ganze Palette von Erscheinungsformen. Ruách ist „die Weisheit, die am Anfang über den Wassern schwebte“ oder „der Geist, der über den Wassern brütete“. Bei Hermann Gunkel fand sich eine Stelle, die den Naturzusammenhang von Atem und Geist im mythologischen Bild noch sichtbarer macht: „Die Entstehung der Welt denkt man sich als Analogie zur Entstehung des Vogels im Ei. Die Gottheit wird dabei als brütender weiblicher Vogel vorgestellt. Sie brütet das Weltei aus. Schon in sehr alter Zeit ist an die Stelle der Göttin eine Abstraktion getreten.“(11) Auch hier ist das Motiv des Abstrahierens zu erkennen. „schon in sehr alter Zeit“ ist die ruach vom Bild der brütenden Göttin abgelöst und zunehmend patriarchalisiert worden. Und so ist das Weibliche als schöpferische Kraft immer tiefer ins Unbewusste gesunken und mit ihm das Wissen von der ureigenen Naturgeistigkeit des Menschen.

Es hat mir Freude gemacht, dem Atem in die Tiefenschichten der Sprache zu folgen – einer Sprache, die ich vor langer Zeit gelernt und dann fast ganz vergessen habe. Eine Freude ähnlich der, die ich empfinde, wenn ich dem Atem in die Tiefenschichten des Leibes folge. Wenn mein Bewusstsein dem Atem folgt und wahrnimmt, wie er „die Dunkelkammern des Leibes durchforscht“, wird die eigene Anatomie von innen her belichtet. Die Organe zeigen sich in ihrer erstaunlichen Intelligenz. Sie zeigen sich differenziert in ihrer körperlichen Funktion, im seelischen Ausdruck und im geistigen Gesetz. So öffnet sich wieder frühes instinktives Wissen und wird zum Bewusst-Sein – vom Zusammenwirken der Organe – vom inneren Aufbau der Wirbelsäule und den mit ihr verbundenen Energiezentren – von den Drüsenverbindungen – von den unterschiedlichen Hirnsphären und ihren Ausdrucksebenen.

Wahrnehmung entwickelt sich im Umgang mit der organischen Lebendigkeit im Körper. Auch in der Innenbegegnung gibt es eine erotische Anziehung. Die Sinne müssen eine natürliche Witterung haben für den subtilen inneren Atem – einen Riecher, mit dem sie „den Duft und die Blüte“ erspüren, die dem Bewusstsein fern und unerreichbar erscheinen. In der indischen Chakrenlehre sind die Energiezentren entlang der Wirbelsäule als Blüten dargestellt. Die Sinne nehmen ihre Spur auf und öffnen den Weg nach innen. Sie stellen sich auf das Empfangen subtiler Botschaften ein. Es ist ein weiches, absichtsloses Offensein, das am ehesten zu dieser inneren Wahrnehmung hinführt. Es darf nie ein Drängen sein. Denn die Atemnatur ist scheu. Sie verbirgt sich vor dem Zugriff des Bewusstseins. Darum muss die Wachheit des Ichs immer wieder zurückgenommen werden, um die Weichheit der Hingabe zu finden. Nur so können sie sich finden und vereinen – das Ich und die Naturweisheit.

Manchmal tut es gut, dem Thema vom „Duft und der Blüte“ auch unmittelbar – im eigenen Leib – nachzuspüren. Wenn Sie Ihre Nasenwurzel weich öffnen, wie für den Duft einer Rose – wenn Sie leicht und wie von selbst nach innen spüren – bis in die Steißwurzel hinein – und tiefer – bis zur „kleinen Quelle“ im Beckengrund – dann lassen sich die zarten Atemimpulse vielleicht für einen Augenblick wahrnehmen, die das Sitzen so lebendig machen und den Geist erfrischen. Eine Frage ist, ob Sie von hier aus den Worten des Vortrags folgen können? Lässt sich aus der „Einwurzelung“ heraus auch leiblich denken?

Der Weg in den Inneren Kreislauf des Atems führt in die früheste Atemerfahrung des Lebens, in die Urerfahrung im Mutterleib hinein. Wir atmen ja nicht erst seit der Geburt. Die Zellen atmen vom Augenblick ihres Ursprungs an und empfangen in den ersten neun Monaten den größten Teil der Bildung, die ein Mensch im Lauf seines ganzen Lebens aufnehmen kann. Es ist eine Bildung im doppelten Sinn. Während der Leib des Kindes gebildet wird, speichern die Zellen die ganze Fülle des Artwissens. Die Zellen bewahren es – ob wir dieses Wissen abrufen können oder nicht. In der frühen Erfahrung liegt ein Wissenspotential, das viel differenzierter und älter ist als alles, was wir später dazulernen. Seelische und körperliche Prozesse sind im Inneren Kreislauf nicht voneinander geschieden. Was von hier ausgeht, ist leibseelischer Natur und gehört zur psychosomatischen Grundausstattung des Menschen. Tiefenpsychologisch gesehen reicht der Innere Atem ins kollektive Unbewusste hinein. Daher verschwimmen hier die Grenzen zum Transpersonalen. Ursprüngliche Natur und religiöse Erfahrungen atmen im gleichen Raum.


Finden und Fassen

Suchen geht vom Ich aus. Finden ist die Gnade einer Begegnung, die wir nicht selbst bestimmen, nicht vom Bewusstsein her konstellieren können. Hier sind die Grenzen jeder Methodik. Die selbstheilenden Kräfte können auf unterschiedliche Weisen angesprochen und geweckt werden. Ihr Kommen ist immer spontan.
Das als Menschenbild vom Künstler und Hirten vermittelt etwas vom absichtslosen Aufeinanderzukommen, in dem das Ich und die Instinktnatur sich begegnen. Wenn das Ich nur still genug „dahockt“, kann es sein, dass der Hirte mit der Herde zum Fluss zieht. So kann das „von Angesicht zu Angesicht“ geschehen, in dem das „ewig Verbundene“ sich für einen Augenblick erkennt.

Wo es um die Atemprozesse im Unbewussten geht, reichen die Parameter des Bewusstseins nicht aus. Ich muss mich auf das Fremd- und Anders-Sein meines Unbewussten einlassen, um den Atem im Inneren Kreislauf wahrzunehmen und ihn auf mich wirken zu lassen. Aus der persönlichen Annäherung heraus lassen sich mit der Zeit auch Aussagen zum Gesetz des inneren Atems machen.

Den Atem auf seinem Weg durch die Organe zu begleiten, hat mit ursprünglicher Entdeckerfreude zu tun. Wie ein Kind seine Welt erforscht ? unbelastet von Wissen, das gemessen, gewogen, getestet und ausgewertet werden kann, lässt sich das Bewusstsein auf die Welt des inneren Atems ein, lässt sich von ihm in unbekannte Schichten des Körper hinein führen. Wo Atembewegungen erkennbar werden, kann die Wahrnehmung ihnen folgen. Dabei darf die innere Ordnung möglichst wenig beeinflusst oder gestört werden. Mit der Zeit stört sich das Atemgeschehen immer weniger an der Anwesenheit des Bewusstseins. Es kann für Augenblicke dabei sein und zuschauen, wie die Natur atmet.

Das Zuschauen, wie die Natur atmet, lässt sich auf einfache Weise erlernen, wenn die Sinne morgens erwachen. Wie ein Kleid aus feinem Stoff sich entfaltet, so entfaltet sich das Bewusstsein, wenn es sich aus dem Schlaf erhebt.(12) Noch ist das Ich traumverhangen. Noch fließt der Atem ungestört durch die inneren Bahnen. Beide, das erwachende Ich und die im Schlaf arbeitenden Organe sind noch nah beieinander, eins dem anderen zugewandt. Auch am Abend, wenn die Sinne sich wieder schließen, kann das Bewusstsein ihnen relativ leicht auf dem Weg ins Innere folgen. Die Sinne wissen, wie es geht. Das Einfalten der Sinne hat etwas mit „der Einfalt“ zu tun. Sie gehört zu den drei Tugenden der Mystik gehört, von denen Johannes Tauler spricht. Lauterkeit, Gelassenheit und Einfalt sind für ihn die Wegbegleiter zur Innenschau.(13) Wir hören in diesem Wort heute eigentlich nur noch: „dumm“ oder „beschränkt sein“. Warum nicht? Es geht um Beschränkung. Das Abdunkeln des hellen Intellekts gehört zum Eintauchen in den Innenraum des Körpers, so wie es zur Meditation gehört. Das so viel sanftere Licht im Innenraum des Körpers, das Licht der neshamá, ist anders gar nicht zu erkennen.

Die Wahrnehmung lernt aus Erfahrungen. Dieses Von-Innen-Lernen hat Parallelen zum Lernen der Tiere. Der REM-Forscher Jonathan Winson spricht von einem neuronalen Tor-Mechanismus, der es ermöglicht, dass dem jungen Tier „träumend Überlebensstrategien eingearbeitet werden“. Im Wachzustand sind die Tore geschlossen. Wenn das Tier einschläft, öffnen sie sich langsam und lassen die Neurotransmitter durch.“(14) Diese Aussage von Winson erinnert an Beobachtungen, die ich bei der Arbeit im Inneren Kreislauf des Atems immer wieder mache. Während die Wahrnehmung sich in einem Bereich aufhält, in den wir normalerweise nur schlafend gelangen, nehme ich wahr, wie sich solche inneren Tore öffnen. Wenn das Bewusstsein über einen längeren Zeitraum an der fließenden Innenbewegung teilnimmt, werden ihm Botschaften aus den Tiefenschichten der Zellen zugetragen.
Natürlich braucht es eine Zeit der Anpassung an das innere Milieu, ehe solche Botschaften verlässlich erkannt und vom Bewusstsein aufgenommen werden können. Doch je länger das stille Wahrnehmen im Innenraum des Körpers geübt wird, desto weiter öffnen sich diese Tore. Wie ich vermute, öffnen sie den Zugang zu einer präexistenten Ordnung, die als „Artgedächtnis“ dem Leib eingeprägt ist. C.G. Jung spricht von Urprägungen, die im kollektiven Unbewussten zu finden sind. Der Weg des Atems, der die Wahrnehmung bis in die Tiefenschichten innerer Prozesse hineinführen kann, wird so zu einem leiblich erfahrenen Lehrweg.
Lenas Bild fällt mir dazu ein. Sie hat eine angespannte, eher misstrauische Beziehung zu ihrem eigenen Körper. Sie wagte sich bisher nur zögernd an die Atemwahrnehmung in der Gruppe heran. Als sie zum erstenmal die ruhig fließende Bewegung im Inneren Kreislauf des Atems spürte, war sie verblüfft über die ganz andere Qualität ihrer Empfindung: „Mein Körper ist eine Friedensuniversität. Da möchte ich von jetzt an studieren!“ Aus einer solchen Spontanerfahrung entwickelt sich oft der persönliche Weg zum angeborenen Körperwissen.

Wer auf die Suche nach dem eigenen Naturwissen gehen möchte, braucht eine angemessene Ausrüstung. Schon dabei sind wir aufs Finden angewiesen, denn Empfindung oder Intuition allein genügen nicht, um sich in den inneren Schichten des Leibes zu orientieren. Erst wenn beide – wenn bewusste und unbewusste Wahrnehmung sich verbinden, wenn sie Hand in Hand gehen, kann sich die „feine Selbstwahrnehmung“ bilden, von der Freud in einem Brief an Arthur Schnitzler schreibt: „So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition – eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe.“(15) Wenn Empfindung und Intuition sich vereinen wird die Wahrnehmung rund wie ein Schöpfgefäß. Und so kann sie die Inhalte aus dem Unbewussten aufnehmen. Auf der Gewebetafel ist dieses Zusammengehen der polaren Kräfte sehr anschaulich dargestellt. In den beiden Kindern – männlich und weiblich – die das Schöpfrad treten und das Wasser tragen, kommt das Gesetz von der Vereinigung der Gegensätze zum Ausdruck, die erst den Zugang zur lebenserneuernden Ganzheit ermöglicht.

Natürlich geht es auch in der Innenbegegnung nicht immer friedlich zu. Wer an der Inneren Beziehung arbeiten will, muss sich auf starke Widerstände gefasst machen. Denn das Ich versucht sich zu behaupten. Und das Nord-Süd-Gefälle ist auch im Innenkontakt nicht leicht zu bewältigen. Erst wenn eine neue Einstellung als Boden für die Begegnung zwischen Ich und Selbst gefunden ist, beginnt das innere Zwiegespräch.
Hanna hat über lange Zeit mit dem Konflikt zwischen ihrem Ich und ihrem vitalen Kräftepotenzial im Unbewussten gerungen. Dieser Kampf schlägt sich in heftigen Migräneanfällen nieder. Nach einer Atemstunde schreibt sie in ihr Tagebuch:

„Auf dem Rücken liegend sinke ich tiefer ein, ich sinke in die Erde. Der warme Strom von den Füßen bis zur Schädeldecke wird stärker. Ich kann in die Breite hinein kein energetisches Umfeld spüren, fühle mich schmal, in die Länge gestreckt. Ich empfinde mich wie eine Gestalt auf einer Grabplatte, streng, ich liege in der Vertikalen. Mir kommt der Gedanke: „ausgestreckt zwischen Himmel und Erde“. Eine Ahnung davon überwältigt mich, was das bedeutet: „ausgestreckt zwischen Himmel und Erde“ – gleichzeitig erdgebunden und nach oben, zum Geistigen, zum „Himmel“ gerichtet und bezogen zu sein. Was für eine Ungeheuerlichkeit! Welche Zumutung! Ich erlebe und empfinde etwas von der Spannung dieser Existenz, der Spannweite und der Zumutung. Es ist ganzheitliches Erleben mit Geist, Seele u. Leib. Nichts Einzelnes, keine Gedanken – dieses ausgespannte Sein selbst fällt mir aufs Herz. Das Erlebnis hat auch mit Sterben zu tun, aber ich weiß nicht recht, was und wie.“

Wenn das Ich sich wirklich einlässt, stirbt das alte Menschenbild und ein neues ist noch nicht da. In der therapeutischen Arbeit taucht immer wieder ein Moment auf, wo das Ich seine Wünsche und Vorstellungen loslassen muss. Dazu gehören auch Werte, Anschauungen und Ideale, mit denen wir uns identifiziert haben. Das kann wie ein Sterben des Ichs erlebt werden. Das Ankommen auf einer tieferen Ebene wird dann wie eine Erlösung erfahren. Die Gegensätze bekämpfen sich plötzlich nicht mehr. Da ist Stille eingetreten. Keine Frage mehr nach dem Sinn. Es ist, wie es ist. Und das Ich nimmt es an. Solche Zeiten können tief erholsam sein und eine Chance zur Erneuerung.

In den Einweihungsritualen aller Völker gibt es das Motiv des mystischen Todes. Eins der Wandgemälde in Pompeji zeigt eine Initiandin, wie sie am Rand eines tiefer gelegenen Beckens steht und wartet. Wenn der Ruf kommt, der ihr gilt, muss sie springen.(16) Dieser Sprung wurde als geistiger Tod, als Tor zur Wandlung verstanden. Ein solcher Ruf kann auch durch eine plötzlich auftretende Krankheit ergehen und er kann den wirklichen Tod ankündigen. Aus der Tiefe des inneren Wissens heraus wird das Bewusstsein auf das Sterben vorbereitet und auf dem Weg zum Tod geleitet.
Meine Hände erinnern sich noch immer an den Atem von Verena. Zwei Jahre vor ihrem Tod lernte ich sie kennen. Es war ein warmer Sommerabend. Der Duft von Rosen und Apfelbaum kam mit ihr aus dem Garten herein. Wie weich und offen ihre Haut war. Wie Blüten, die sich in der Sonne geöffnet haben. Ich staunte über die pflanzenhafte Sinnlichkeit ihrer Schönheit. Verena hatte einen dieser modernen Berufe, die hellwache Intelligenz, schnelle Entscheidungen und eine hohe Fähigkeit zur Stressbewältigung erfordern. Wie macht sie das, dabei so weich zu sein? Wie macht sie das, mit einer so weichen, aufnahmebereiten Natur die geforderte Präsenz aufzubringen, immer auf Sprung zu sein? Einige Wochen später traf ich sie auf einer Geburtstagsparty. Es war eine andere Verena, die ich dort sah. Sind alle Blütenblätter heute geschlossen? Wieder hatte ich diesen vegetativen Eindruck von ihr und dazu das Gefühl: sie passt nicht hierher. Kann sich ihre Schönheit auf diesem Boden nicht entfalten?
Verenas Atem lernte ich im Jahr darauf kennen. Sie war an einer dieser rapiden Krebsarten erkrankt, die kaum noch eine Chance lassen. Nach der Chemotherapie besuchte sie mich zum erstenmal und wie erstaunt war ich, als ich ihren Atem berührte. Da war sie wieder, diese weiche Hingabe an das Leben. Nur bei kleinen Kindern und bei Menschen, die noch ganz in ihrem Kollektiv geborgen leben, habe ich den Atem so ungestört fließend gefunden. Wieder war da diese vegetative Gelöstheit, die mich schon damals so berührt hatte – eine Hingabe ohne Vorbehalt. Die Hingabe an den Tod? Wehrt sie sich denn nicht? Ich fand keinen Ansatz zur Kampfbereitschaft, keinen vitalen Impuls, den ich hätte aufnehmen können. Kann das Ich so tief eins sein mit der Natur? Eins-Sein auch mit dem Leiden an ihr?
In der zweiten Stunde, als meine Hände am Sonnengeflecht arbeiten, weinte sie still vor sich hin. „Ich bin bereit zum Sterben. Dass mein Mann so leidet, tut mir sehr weh.“
In der dritten und letzten Stunde war sie wieder da, diese weiche Gelöstheit, die sich bis in ihre Haut hinein öffnete, in der sich ihr Wissen vom Tod bezeugte – sinnlich und geistig zugleich.


Impulse für therapeutisches Handeln im Atem anderer

Während der Arbeit am Inneren Atem tauchen oft spontane Impulse auf. Ich denke, dass ist in therapeutischen Situationen oft der Fall. Die Frage ist, wie gehen wir mit den spontanen Impulsen um? Sie legen mir hin und wieder nahe, in einer bestimmten Weise zu arbeiten, obwohl ich noch kaum verstehe, warum. Meine Hände verstehen es. Sie sind bei der Arbeit an den eigenen Inneren Atemkreislauf angeschlossen und nehmen die entsprechende Innenbewegung darum auch in Anderen wahr. Als Beispiel erzähle ich einen Ausschnitt aus einer Einzelstunde mit Hanna:
Heute ist ein Migränetag. Wir haben lange am Rücken und an den Füßen gearbeitet. Sie konnte meine Anregungen gut aufnehmen und umsetzen. In den Füssen ist eine gute Basis entstanden, auf der sie aufbauen kann. Ich spreche die Breite im Beckenraum an. Ist da ein Zuviel an vitaler Energie, das in den Kopf drängt? Ich spreche es an. „Die Geschlechtskraft nicht hochziehen! Sie kann sich ans Sacrum anschließen“. Dir Frage taucht auf, ob die Migräne hier ihren Ursprung hat? Das Bild von der hochgezogenen Kraft begleitet mich noch eine Weile. Es taucht in der Leibmitte erneut auf. Der horizontale Atem im Raum der Nieren, den wir vom Rücken her schon angesprochen haben, steht jetzt für die Arbeit am Sonnengeflecht zur Verfügung. „Emotionen unterm Zwerchfell lassen!“ möchten meine Hände sagen, „sie weich zurücknehmen und zur Wirbelsäule hin fließen lassen. Nicht in den Kopf nehmen! Nicht denken!“ Anscheinend versteht Hanna meine nonverbalen Anregungen. Sie nimmt sie auf. Die Atembewegung vertieft sich in den Rücken hinein.
Meine Hände gehen jetzt zum unteren Schädelrand. Das geschieht wieder aus einem spontanen Impuls heraus. Ich habe den Eindruck, dass wir heute die Basis der Kopfkräfte erreichen können. Ich versuche über eine sehr nach innen bezogene Bewegung die feste Struktur etwas zu lockern, damit der Atem sich in die Breite hinein entfalten kann. Ich habe dabei die Empfindung, unmittelbar an der Instinktbasis zu sein und diese aufzurufen. In dem Maß, wie sich die tiefe Schädelbasis öffnet, kann Hanna vom Schädeldach her eine Verbindung zum Beckenboden finden. Diese geht bis in die Füße hinein und bewirkt, dass die stark im Kopf polarisierte Energie sich dem Atemstrom wieder anschließt und sich in den organischen Zusammenhang einordnen kann.

In der Pause fällt mir ein, dass ich schon öfter bei Frauen, die an Migräne leiden, einen starken Energiestrom zum Kopf hin wahrgenommen habe, der vom Sacrum ausging. „Geballte Energie“ fällt mir dazu ein. Ist es eine geistige Potenz, die ihren Ort im weiblichen Raum hat? Ich nehme sie als elektrische Spannung wahr. Bekommt der Kopf von der Basis her eine zu vitale Ladung, die er in dieser Form nicht aufnehmen und verarbeiten kann? Es fühlt sich an wie ein Stau, wie eine Überdehnung in den Gefäßen. (Ich arbeite tiefenpädagogisch, d.h. meine Hände zeigen auf, wo sich die Klientin tiefer wahrnehmen und aus der Wahrnehmung heraus einen tieferen Bezug zur inneren Ordnung finden kann. Um die leibseelische Bedingung in ihrer vorbewussten Form anzusprechen und einen kreativen Umgang zwischen dem Ich und dem inneren Atem anzuregen, benutze ich in dieser Phase eine eher bildhafte Körpersprache. Erst später, wenn wir die Wahrnehmungen aufarbeiten, geht es ums Unterscheiden, Zuordnen und Erkennen der körperlichen und psychischen Anteile).

Am Ende der Stunde sagt Hanna: „Ich spürte, dass meine Füße ihren Weg gehen können. Sie finden ihren Weg. Ich ziehe aber noch immer alles in den Kopf. Ich gehe über das Denken. Darum ist auch jetzt eine Spannung in mir geblieben. Der Kopf will sich nicht einlassen. Er will alles bestimmen.“ Ich frage, ob es einen Zusammenhang geben könne zwischen der vitalen Kraft im Sacrum und der gestauten Energie im Kopf? Ob die vitale Kraft sich in den Kopf verirrt hat? Wir lassen es so stehen. Weder bei ihr, noch bei mir ist eine Lösung da. Eher eine offene Frage.
Wochen später erinnert sie mich an diese Stunde und sagt: „Ich habe bisher vor allem meinem männlichen Geist getraut. Den weiblichen Geist habe ich ganz früh unterdrückt. Damit wäre ich weder im Studium noch im Beruf ernst genommen worden. Jetzt verstehe ich, warum meine Füße sicher sind, ihren Weg zu finden. Meiner Natur kann ich trauen. Das Weibliche ist viel stärker, als ich gewusst habe.“


Impulse für therapeutisches Handeln in der Selbstwahrnehmung

Auch die Selbstwahrnehmung empfängt „Impulse für therapeutisches Handeln“. Diesen Sommer in Italien bin ich von einer verwitterten Steinstufe abgerutscht. Beim Aufkommen auf dem Kopfsteinpflaster habe ich mir das Fußgelenk kompliziert gebrochen. Da saß ich in der Morgensonne auf der Treppe und realisierte, was passiert war. Mein Fuß hing haltlos herab und schlockerte ungelenkt hin und her, als ich das Bein bewegte. Während ich das arg deformierte Fußgelenk anschaute, tauchte ein Bild auf. „Ich sah mein Gelenk von Innen. Sah, wie die Knochen von Natur her ineinander gefügt sind. Ihre rosige Farbe fiel mir auf. In der Breite waren feine helle Linien hin und her gezogen (etwa so, wie Wäscheleinen gespannt werden). Sie zogen die Knöchel zusammen.“ Dieses Bild hatte eine starke Wirkung auf mich. Ich konnte den Gelenkraum von innen empfinden. Das nahm den Schmerz zurück und gab mir
Halt und Ruhe mitten in der chaotischen Bedingung. Die hellen Linien zwischen den Knöcheln brachten mich auf die Idee, meinen hellen Leinenschal vom Hals zu nehmen und ihn fest um das Gelenk zu binden. Das war eine große Erleichterung.

In Orvieto wurde das Bein provisorisch in Gips gelegt. Auf der Reise nach Deutschland tauchte das Gelenkbild immer wieder auf. Immer wieder ging diese ordnende und haltgebende Wirkung von ihm aus. Als ich Tage später operiert wurde, stellte man fest, dass der Fuß nicht eingerenkt war. Ich dachte an die hellen Linien, die mir von Anfang an wie Handlungsimpulse erschienen waren. Ein solches Bild ruft das Bewusstsein in die Mitte der Verletzung hinein. Es weist auf die gestörte Ordnung hin und gleicht sie aus. In den Wochen unterm Gips half es mir, eine Empfindung für die Innenbewegung im Gelenk zu finden. Ich bekam Lust, mit der Gewebeflüssigkeit zu spielen und fand so einen Zugang zur Bewegung mitten in der Bewegungslosigkeit. Ich vermute, dass das innere Bild den Heilungsprozess sehr unterstützt hat. Hätte ich den Mut gehabt, mein Gelenk einzurenken, wenn ich den Hinweis noch realer verstanden hätte?


Schlussbetrachtung

Das Hirtenbild vom Anfang taucht wieder auf. Naturmenschen müssen eine unmittelbare Beziehung zu ihren inneren Bildern haben. Wissen allein umherziehende Hirten auf diese Weise, was zu tun ist, wenn sie sich auf ihren Wanderungen verletzen? Ich vermute, Impulse aus dem inneren Wissen sind ursprüngliche Überlebenshilfen und sind es auch heute noch. Nur auf einer anderen Seinsebene.
Die nahe Beziehung zur eigenen Natur hat sowohl eine sinnliche, als auch eine geistige Bedeutung für unser inneres Bild vom Menschsein. Diese Nähe könnte eine Entwicklung begleiten, die sich im veränderten Menschenbild der Naturwissenschaft ankündigt. Ich habe mich gefreut, als ich über die neuen Forschungsergebnisse von Michael Gershon(17) las. Zur Zeit der Entdeckung eines „zweiten Gehirns“ im Darm scheint es mir sinnvoll zu fragen:
Wie wäre es, die Intelligenz der Organe im eigenen Leib zu entdecken, um ganz und vollständig zu sein?
Wie wäre es, im weiblichen Geist die Naturweisheit wiederzufinden und sie dem Logos gleich würdig zu achten?
Wie wäre es, mit allen Sinnen – je sinnlicher, desto geistiger – Mensch zu sein?

 

Anmerkungen
1)
Ernst- Norbert Jocks, „Archäologie des Reisens“ Dumont, Köln 1997
2) Erwin Rousselle, „Seelische Führung im Taoismus“ Eranos-Jahrbuch 1933, Rhein-Verlag Zürich 1956 / Irmgard Lauscher-Koch, Nei Ging Tu, Bilder der taoistischen Gewebetafel, „Texte aus Erinnerung“, Hrsg. Waldmatter Kreis, 1995 / AFA Geschäftsstelle Berlin
3) „Trennung“, Hrsg. H. J. Schultz, Kreuzverlag Stuttgart 1985
4) Otto Bartning: Erde, Geliebte, Spätes Tagebuch einer frühen Reise. Claassen, Hamburg 1955
5) Ich beziehe mich hier auf die Archetypenlehre von C. G. Jung
6) Marija Gimbutas, „Die Sprache der Göttin“, Verlag Zweitausendeins
7) Sprüche 8, 31
8) Erich Neumann: Die Grosse Mutter, Rhein Verlag 1956, S. 305 ff
9) Sprüche 20,27
10) Gesenius, hebräisches und aramäisches Handwörterbuch
11) Hermann Gunkel: „Schöpfung und Chaos“ Vandenhoek und Ruprecht 1921
12) Im Märchen vom Aschenputtel findet sich ein schönes Bild für die feinstoffliche Entfaltung. Aus der Schale der Nuss vom Grabbaum der Mutter entfaltet sich das Kleid, mit dem sie zum Ball geht.
13) bei Johannes Tauler: Einfalt, Gelassenheit, Lauterkeit
14) Jonathan Winson: „Meaning of Dreams“, Scientific American Nov.90
15) S. Freud: Briefe an Arthur Schnitzler, Neue Rundschau 66 / S.97
16) Linda David-Fierz: „Villa dei Misteri“ Frauenmysterien in Pompeji, unveröffentlichter Text
17) Michael Gershon, Professor für Neurobiologie an der Columbia University New York